Sagen des klassischen Altertums
ihre eigene Mutter binden wollten, damit sie auf Dirkes Befehl zu Tode geschleift werde da stürzte der alte Hirt herbei, der einst die Zwillinge vom Tode errettet hatte, und offenbarte das Geheimnis: Antiope ist die Mutter des Zethos und Amphion! Nun kehrte sich die gerechte Wut der Brüder gegen die nichtswürdige Dirke. Sie ward an den wilden Stier gebunden, und dieser schleifte sie durch das Gebirge, bis sie unter den gräßlichsten Qualen ihren Geist aufgab. Ihren Leichnam aber verwandelte der Gott Dionysos in eine Quelle in der Nähe von Theben, die den Namen der bösen Königin Dirke noch in späten Zeiten geführt hat.
Nun zogen Amphion und Zethos mit ihrer wiedergefundenen Mutter nach Theben, wo sie den
schwachen Lykos vertrieben und selbst sich der Herrschaft bemächtigten. Da aber die Stadt, die unterhalb der alten von Kadmos erbauten Burg lag, noch keine Mauern hatte, so beschlossen die Brüder, sie mit einer solchen zu umgeben. Zethos brach gewaltige Felsblöcke aus den Bergen und schleppte sie zum Bau herbei; Amphion aber ließ sein Saitenspiel ertönen; siehe, da bewegten sich doppelt so große Blöcke ganz von selbst, folgten dem Klange der Musik und fügten sich selbst zusammen. So entstanden die berühmten Mauern von Theben; und weil Amphion die siebensaitige Leier erfunden hatte, bekam die Stadt ihm zu Ehren sieben Tore.
DIE DIOSKUREN
Leda, die Mutter der schönen Helena, hatte zwei Söhne, Kastor und Polydeukes. Jener war der Sohn des Königs Tyndareus von Sparta, aber Zeus selbst galt für den Vater des Polydeukes; daher war letzterer unsterblich, Kastor dagegen sterblich. Da aber die Zwillingsbrüder, am schroffen Meeresabhang des wilden Taygetosgebirges geboren, einander an Gestalt und Gemüt völlig glichen und sich so herzlich liebten, nannte man sie auch beide Tyndariden nach Kastors Vater oder Dioskuren, das heißt Zeussöhne. Sie waren ihr ganzes Leben hindurch, ja auch im Tode unzertrennlich und unternahmen ihre mancherlei kühnen 396
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
Heldenstücke immer gemeinsam. Von Schönheit und Anmut strahlend, zu Frohsinn und hilfreicher Güte geneigt, wuchsen sie zu herrlichen Jünglingen heran; Kastor war vor allem erfahren in der Kunst, unbändige Rosse zu lenken, Polydeukes aber wurde der berühmteste Faustkämpfer. Schon in früher Jugend hatten sie Gelegenheit, ihren unwiderstehlichen Heldenmut zu bewähren, als Theseus ihre geliebte Schwester Helena entführt hatte. Auf ihren windschnellen Rossen, die die Götter ihnen geschenkt hatten, jagten sie dem kühnen Räuber nach und befreiten die Schwester aus der festen Burg Aphidnai, wo sie gefangen saß. Später beteiligten sich die Zwillinge an der Jagd des Kalydonischen Ebers und vor allem an der Argonautenfahrt, wo Polydeukes den berühmten Faustkampf mit dem riesigen Bebrykenkönig Amykos bestand. Durch diese und viele andere Heldentaten erwarben sich die Dioskuren unsterblichen Ruhm, so daß der große Herakles sie zu Leitern der von ihm erneuerten Olympischen Spiele erkor.
In Messenien herrschte damals der König Aphareus, ein Schwager des Tyndareus, welcher ebenfalls zwei gewaltige Heldensöhne hatte, den Lynkeus und den Idas. Lynkeus, das heißt Luchsauge, führte seinen Namen mit Recht, denn seine Augen konnten durch einen Baumstamm, ja selbst durch den Erdboden hindurchschauen. Sein Bruder Idas war von ungeheurer Körperkraft und so verwegenem Mute, daß er es einst sogar mit dem erhabenen Apollon aufnahm. Die Tochter des Flußgottes Euenos, die schöne Marpessa, ward nämlich von Apollon geliebt und in seinem Tempel eingeschlossen. Aber Idas, der ebenfalls von heftiger Liebe zu der Jungfrau ergriffen war, brach in das Heiligtum ein und raubte die Geliebte. Als nun der erzürnte Gott ihm drohend entgegentrat, spannte Idas unerschrocken den Bogen gegen ihn, und es wäre zum Kampfe gekommen, wenn nicht Zeus selbst dem Streite ein Ende gemacht hätte, indem er der Marpessa freie Wahl zwischen dem göttlichen und dem sterblichen Freier ließ. Da wählte sie den Idas, der sie freudig heimführte; doch ein hartes Geschick raffte die blühende Gattin bald dahin.
Mit den beiden Aphariden Lynkeus und Idas waren die Dioskuren anfangs innig befreundet; zuletzt aber wurden die Freunde zu Todfeinden, und das ging so zu: Die zwei Brüderpaare zogen einstmals auf Beute aus. In Arkadien raubten sie eine herrliche Rinderherde, die sie untereinander zu teilen beschlossen; dem Idas übertrugen die
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