Sagen des klassischen Altertums
sie sollten zum Mahle kommen. Als sie nun von allen Seiten zusammengeflogen waren, fragte sie der Seher, ob sie ihm den Grund von Iphiklos' Siechtum entdecken könnten. Die Vögel wußten aber alle nichts. Doch war da ein junger Geier, der erzählte, sein alter Vater sei daheim im Neste geblieben, vielleicht wisse der etwas von dem Geheimnis. Sogleich schickte Melampus einige Gesandte an den alten Geier, der auch nach kurzer Zeit wirklich erschien und dem Seher folgendes mitteilte: Einst habe Phylakos im Walde Holz gefällt, und da sein kleiner Sohn in der Nähe sich herumgetrieben, habe der Vater, zum Scherz und um ihn zu erschrecken, die blinkende Axt dicht vor ihm in einen Baum geschleudert, in dem sie steckenblieb und seitdem haftete. Dem Iphiklos aber sei der Schreck in die Glieder gefahren, und daher rühre sein Siechtum.
»Wenn du nun«, so sprach der Geier weiter zu Melampus, »jene Axt findest, so schabe den Rost davon ab und gib dem Iphiklos denselben in Wein zehn Tage lang zu trinken, dann wird er gesund werden.«
Das war es, was Melampus von dem alten Geier erfuhr. Er tat, wie ihm geraten war, suchte und fand die Axt, schabte den Rost davon ab und gab ihn dem Iphiklos zehn Tage lang zu trinken. Alsbald ward derselbe frisch und gesund. Nun gab der erfreute König dem Melampus die Rinder, der sie nach Pylos trieb und dem Neleus brachte. Von diesem erhielt er dafür die schöne Pero und gab sie seinem Bruder zur Gattin. So lebten sie etliche Jahre in Messenien. Iphiklos aber ward ein herrlicher Held, im Wettlaufe unbesiegbar; denn die Schnelligkeit seiner Füße war so außerordentlich, daß er über ein Getreidefeld, ohne die Ähren zu knikken, und über die Meereswogen, ohne sich die Knöchel zu benetzen, dahinlief.
Im Lande Argolis herrschten einst die Zwillinge Akrisios und Prötos, die Enkel der Danaide Hypermnestra und des Aigyptiden Lynkeus. Diese hatten sich nicht brüderlich lieb wie Melampus und Bias, sondern sie hatten schon Händel miteinander, als sie noch an der Mutter Brust lagen. Und als sie herangewachsen waren, stritten sie sich um die Herrschaft, bis Akrisios die Oberhand gewann und den Prötos aus dem Lande verjagte. Prötos aber floh nach Lykien zum Könige Iobates, der ihm seine Tochter zur Frau gab und ihn mit einem Heere nach Argolis zurückführte. Dort eroberte er die Stadt Tiryns, wo ihm die Zyklopen eine gewaltige Mauer und uneinnehmbare Burg bauten. Akrisios mußte nun mit dem Bruder teilen, so daß er selbst zu Argos, Prötos aber zu Tiryns König war.
Von seinem Weibe Anteia hatte Prötos drei Töchter, die so schön waren, daß alle Hellenen sie zu Gattinnen begehrten. Sie aber waren gottlos und stolz; und als sie einst in einen alten Tempel der Götterkönigin kamen, spotteten sie, daß derselbe so einfach und schmucklos war, das Haus ihres Vaters sei viel prunkvoller und glänzender. Doch die Göttin duldete nicht, daß ihr ehrwürdiges Heiligtum verhöhnt werde, sie schlug daher die gottlosen Jungfrauen mit schrecklichem Wahnsinn, also daß sie sich selbst für Kühe hielten und brüllend durch das Land liefen. In Argolis und Arkadien und im ganzen Peloponnes irrten sie sinnlos umher. Darüber war ihr Vater Prötos sehr betrübt, und da er von dem hohen Ruhme des Sehers Melampus gehört hatte, ließ er ihn zu sich rufen und bat ihn, seine unglücklichen Töchter zu heilen.
Melampus sprach: »Ich will deinen Wunsch erfüllen, wenn du mir den dritten Teil deiner Herrschaft abtrittst.« Das war aber dem geizigen Könige zuviel, er wollte also darauf nicht eingehen, und die Folge war, daß die Mädchen noch rasender wurden. Ja ihr Wahnsinn steckte sogar die übrigen argivischen Weiber an, sie verließen ihre Wohnungen, mordeten ihre eignen Kinder und irrten wie jene brüllend umher. Als nun das Übel seinen höchsten Grad erreicht hatte, berief Prötos, von Angst ergriffen, noch einmal den Melampus vor sich und bat ihn um Hilfe, indem er ihm den dritten Teil seines Reiches versprach. Aber der Seher weigerte sich jetzt zu helfen, wenn Prötos nicht auch seinem Bruder Bias ein zweites Drittel zusichere. So schwer es dem Könige ward, so willigte er doch endlich darein, denn er fürchtete, wenn er länger zögere, werde Melampus schließlich noch das ganze Land von ihm verlangen. Nun versammelte dieser sogleich die kräftigsten argivischen Jünglinge um sich, führte sie hinaus in die Gebirge und jagte mit ihnen unter lautem Geschrei und begeisterten Tänzen die Rasenden vor
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