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 Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Nacht auf sein Lager. Sie wurde schwanger, und neun Monate später gebar sie Ödipus.
    Laios war außer sich – und er machte mit diesem Neugeborenen etwas, was in so vielen Märchen mit Neugeborenen geschieht: Der Vater setzte den kleinen Knaben im Wald aus. Vorher aber durchstach er ihm die Füßchen und band sie durch die Wunden zusammen. Was das zu bedeuten hat, ist schwer zu beantworten. Manche Autoren meinen, Laios wollte damit verhindern, daß nach dem Tod des Kindes – er war davon überzeugt, daß Ödipus in der Wildnis sterben würde – sein Geist ihn, den Vater, nicht weiter würde verfolgen können. Wie auch immer: Von diesen durchstochenen Füßchen hat Ödipus seinen Namen. Ödipus heißt: Schwellfuß.
    Laios übergab das Kind einem Diener – genauso, wie es in den Märchen auch immer der Fall ist. Diese Diener haben alle ein gutes Herz, oder zumindest haben sie sich einen letzten Kern von Anstand bewahrt, oder vielleicht ist es auch nur deswegen, weil der Diener einen langen Weg in den Wald gehen muß, und wenn jemand einmal einen Säugling eine Stunde lang getragen hat, dann ist er nicht mehr in der Lage, ihn den wilden Tieren vorzuwerfen.
    Jedenfalls: dieser Diener war auch nicht dazu in der Lage. Er übergab das Bündel unterwegs irgendeinem Hirten und sagte: »Da ist ein Kind drin eingewickelt. Dieses Kind soll dem Tod überantwortet werden. Mach du mit dem Kind, was du willst. Ich werde meinem Herrn melden, ich hätte getan, was er mir befohlen hat.«
    Wir kennen viele solche Geschichten. Zum Beispiel bei den Brüdern Grimm kommen sie immer wieder vor – denken wir an das Märchen vom Mädchen ohne Hände oder an Schneewittchen. Diese Geschichten sind Zeugnisse grausamer Armut. Die Menschen konnten ihre Kinder nicht ernähren, sie setzten sie aus und erfanden diese Märchen, vielleicht um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen – denn diese Märchen gehen alle gut aus, für die Ausgesetzten.
    Der Hirte in unserer Geschichte brachte den kleinen Ödipus zu seinem König, zu Polybos von Korinth, und er sparte nicht mit der Wahrheit und erzählte haarklein, was vorgefallen war.
    Dieser König, er war ein gütiger König, und auch die Königin war gütig, und die beiden verliebten sich auf Anhieb in dieses Knäblein, das sie aus seinem Windelkissen heraus anstrahlte, und sie sagten: »Wir werden diesen kleinen Buben an Kindes statt annehmen.«
    Die Königin hatte sich sogar einen schönen Trick ausgedacht, um ihr Volk zu täuschen. Sie tat so, als ob sie schwanger wäre, und ging mit ihren Freundinnen und dem Hofstaat hinunter zum Wasser und führte sich auf, als ob sie gebären würde. Und plötzlich hielt sie dieses fixfertige Knäblein im Arm. Eine andere Version erzählt, die Königin habe unten beim Fluß so getan, als ob sie das Kindlein in einem Korb aus dem Fluß gezogen habe. Dabei müssen wir natürlich an das Schicksal des kleinen Moses denken.
    Polybos und seine Frau nahmen den Ödipus bei sich auf, und Ödipus wuchs bei ihnen heran, und er war stets der Meinung, daß Polybos und die Königin seine rechtmäßigen Eltern seien. So wurde aus ihm ein junger Mann, ein sehr starker, sehr kluger, trotz seiner Jugend weiser Mann, vielleicht ein etwas zu melancholischer, zur Schwermut neigender junger Mann.
    Eines Abends bei einem Fest kommt ein Bursche zu ihm und sagt, ohne jede böse Absicht, aber doch der Wahrheit entsprechend: »Ödipus, du siehst sehr schön aus, du siehst sehr klug aus, aber wie deine Eltern siehst du nicht aus! Du siehst weder deiner Mutter ähnlich noch deinem Vater.«
    Und damit pflanzte er einen bösen Zweifel in das Herz des Ödipus, und als die Gesellschaft später bei Tisch saß – Ödipus hatte seinen Platz neben König und Königin –, da betrachtete er im Spiegel an der gegenüberliegenden Wand seine vermeintliche Mutter, seinen vermeintlichen Vater und sich selbst. Und er mußte sich sagen: Dieser junge Bursche hatte recht.
    So machte sich Ödipus ebenfalls auf den Weg nach Delphi, um das Orakel zu befragen. Er wollte wissen, was mit ihm sei.
    Kaum hatte er den Schrein der Priesterin betreten, da geschah etwas, was in Delphi noch nie geschehen war und auch nie wieder geschehen würde: Die Pythia verweigerte ihm jede Auskunft. Sie ließ ihn nicht ein und rief: »Hinweg, du Elender, du wirst deinen Vater töten, und deine Mutter wirst du heiraten! Ein unaussprechlicher Fluch lastet auf dir! Hinweg! Wenn du der Menschheit etwas Gutes tun willst, dann geh in den

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