Sagen des klassischen Altertums
Tod!«
Ödipus war furchtbar erschrocken, er war noch ein junger Mann, vor allen Menschen liebte er seinen vermeintlichen Vater Polybos am meisten, und er wollte auf gar keinen Fall Unglück über König und Königin bringen. Aber sterben wollte er natürlich auch nicht.
So beschloß er, in die Welt hinauszuziehen. Er wollte nie mehr zurückkehren nach Korinth.
Traurig wanderte er durch die Welt, und eines Tages auf seiner Wanderschaft traf er an einer schmalen Wegstelle auf ein Pferdegespann. Nun muß dazu gesagt werden, daß Ödipus wohl ein melancholischer Charakter war, aber er war doch auch einer, der ein natürliches Gespür für Recht und Unrecht besaß und es nicht zuließ, daß ihn jemand beleidigte, und der es auch nicht zuließ, daß sich irgend jemand über ihn stellte. – Auf diesem schmalen Weg kam ihm dieses Fuhrwerk entgegen, und auf diesem Fuhrwerk standen mehrere Männer in Lederrüstungen, und hinten, auf einem protzigen Thron, saß ein alter Mann, der sagte:
»Verschwinde! Geh aus meinem Weg, ich bin höher gestellt als du, geh du auf die Seite, ich werde es bestimmt nicht tun!«
Ödipus wäre selbstverständlich zur Seite getreten, wenn ihn dieser Mann höflich gefragt hätte, wenn er darum gebeten hätte, aber diesem Befehlston wollte er auf gar keinen Fall gehorchen.
»Hör zu, alter Mann«, sagte er, »ich gehorche nur den Göttern und meinen Eltern, sonst gehorche ich niemandem.«
Da begann der Mann von dem Fuhrwerk herunter mit der Peitsche auf Ödipus einzuschlagen. Ödipus faßte die Peitsche und riß den Mann von seinem Sitz herunter. Es kam zu einem Handgemenge, Ödipus erschlug die Männer in den Lederrüstungen, er war sehr stark, und im Streit schoß der Jähzorn in ihm hoch, die Pferde drohten durchzugehen, der alte, tyrannische Mann beschimpfte Ödipus weiter in unflätigster Weise, Ödipus schlug ihm auf den Kopf, der Alte taumelte, griff nach den Zügeln der Pferde, ein zweiter Schlag traf ihn tödlich, und sein Leichnam wurde von dem Gespann davongeschleift.
Wer dieser alte, tyrannische Mann war, das läßt sich denken. Es war Laios. Es war Laios, der König von Theben, der wahre Vater des Ödipus, der seinen kleinen Knaben kurz nach der Geburt hatte aussetzen wollen, der ihm die Füße durchstochen hatte und der überzeugt war, daß sein Sohn tot sei.
Laios hatte sich ebenfalls auf dem Weg nach Delphi befunden, denn er wollte wieder von der Pythia eine Auskunft haben, und diese Auskunft betraf die Sphinx. Ich habe am Beginn dieser Geschichte erzählt, daß Hera in ihrem Zorn auf Laios, weil er den kleinen Chrysippos verführt und entführt und seine Gattin Iokaste des Knaben wegen vernachlässigt hatte, zuerst die Unfruchtbarkeit und später die Sphinx geschickt hatte. Die Sphinx war geblieben, und sie bedrohte die Stadt Theben immer noch, sie würde erst verschwinden, wenn ihr Rätsel gelöst war. Denn jedem, der bei ihr vorbeikam, lauerte sie auf und stellte ihm ihr Rätsel, und wer das Rätsel nicht lösen konnte, den verschlang sie.
Diese Sphinx muß man sich so vorstellen: ein Frauenkopf, ein Löwenkörper, ein Schlangenschwanz und Adlerflügel. Ich habe in verschiedenen Büchern nachgeschaut, was diese Sphinx symbolisierte, und es gibt eine ganze Reihe von Erklärungen. Eine besagt, daß sie das Jahr darstellte, das Jahr mit seinen vier Jahreszeiten, daß sie, will man es noch abstrakter, die Zeit, die Vergänglichkeit symbolisierte. – Geben wir uns damit zufrieden. ..
Laios hatte gemerkt, daß der Handel mit seiner Stadt praktisch zum Erliegen kam, denn die Händler, die Theben besuchen wollten, wurden alle von der Sphinx aufgefressen. Niemand mochte mehr nach Theben gehen. Die Stadt drohte zu verarmen. Nach innen war die Sphinx ein Gefängniswächter, es war schwer, die Stadt zu verlassen, man mußte Tricks anwenden, Schleichwege kennen, sich Schleppern anvertrauen und so weiter.
Das Rätsel der Sphinx war folgendes, es hieß: »Welches Wesen, das nur eine Stimme hat, hat manchmal zwei Beine, manchmal drei Beine, manchmal vier Beine und ist dann am schwächsten, wenn es am meisten Beine hat, und am stärksten, wenn es am wenigsten Beine hat?«
Das war das Rätsel der Sphinx.
Niemand hatte das Rätsel bis zu jenem Tag lösen können. Nachdem Ödipus seinen wirklichen Vater, Laios, den König von Theben, erschlagen und damit den ersten Teil der delphischen Weissagung erfüllt hatte, ging er weiter auf dem Weg nach Theben. Unterwegs wurde ihm zugerufen:
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