Sagen des klassischen Altertums
einem neuen Mißverständnis, denn der alte Menoikeus, der Vater der Iokaste, der seinen Lebensabend in Theben verbringt, meint, er sei gemeint, weil er ein Nachfahre der gesäten Männer ist. Er denkt sich also: »An mir liegt es.«
Bei einem Götterfluch haben die Menschen nicht nachzufragen: »Warum habt ihr dort oben mich verflucht?« Das wäre Lästerung. Menoikeus zieht die Konsequenzen aus seinem Verständnis des Spruchs des Teiresias, er stürzt sich von den Mauern der Stadt zu Tode.
Menoikeus opferte sich im Glauben, er befreie damit Theben. Er wird als Held gefeiert, aber Teiresias sagt: »Das war gut gemeint, das haben die Götter wirklich gern gesehen. Aber ihn wollten sie nicht. Sie wollten einen der gesäten Männer, aber nicht ihn, sie wollten einen aus der dritten Generation.«
Immer enger schnürt sich das Schicksal um den armen Ödipus. Der Trick, den Sophokles in seinem Stück »König Ödipus« anwendet, besteht darin, daß der Zuschauer ganz genau weiß, was auf Ödipus lauert, daß wir wissen, er ist unentrinnbar seinem Schicksal ausgeliefert. Und wir schauen klamm und voller Entsetzen zu, wie die Pranke des Schicksals zum letzten Schlag gegen Ödipus ausholt.
Ödipus ist ein sehr weiser und sehr gütiger König, aber die Pest bleibt über der Stadt, und das Orakel in Delphi hat verkündet: »Erst wenn ihr den Mörder des Königs Laios findet, wird die Pest die Stadt verlassen.«
Teiresias bekommt schließlich die Erlaubnis der Götter, die schreckliche Wahrheit aufzuklären, der blinde Seher tritt hin vor den König, zeigt mit dem Finger auf ihn, streicht mit der Hand über sein Gesicht und sagt: »Du bist Ödipus, und du bist gemeint, denn du hast deinen Vater erschlagen, und du lebst in sündiger Ehe mit deiner Mutter Iokaste zusammen.«
Und wir sehen: Ödipus ist entsetzt, aber er hat die Wahrheit bereits geahnt. Nun beginnt er sich zu verteidigen gegen sein Schicksal. Er glaube nicht, was der Seher behauptet, sagt er. Er beschuldigt Teiresias sogar, dieser habe ein Komplott gegen ihn geschmiedet, er stecke mit Kreon unter einer Decke. Ödipus beginnt um sich zu schlagen. Freilich, es gibt einige, die ihm glauben. Teiresias, wir werden davon noch hören, hat keinen besonders guten Ruf, obwohl er doch immer wieder angerufen wird, wenn es darum geht, in die Zukunft zu sehen. Eine Intrige ist dem Wahrsager durchaus zuzutrauen. Vielleicht hat er sich ja tatsächlich von Kreon kaufen lassen.
Kreon, das wußten alle, war nach wie vor der Überzeugung, er habe den einzig berechtigten Anspruch auf den Thron von Theben. Er lauerte im Hintergrund. Ödipus beschuldigt ihn, aber die Ahnung, es könnte in seinem Schicksal etwas Grauenhaftes verborgen sein, läßt ihn nicht los. Und so drängt er auf der einen Seite diese Gedanken von sich, auf der anderen Seite beginnt er Nachforschungen anzustellen.
Die Spannung konzentriert sich nicht so sehr in der Frage, was wird geschehen, sondern in der Frage: Was ist bisher geschehen?
Es kommen immer schrecklichere Dinge zum Vorschein: Teiresias, um sich reinzuwaschen von dem Vorwurf, er plane eine Intrige, läßt den Hirtenknaben herbeischaffen – inzwischen ist er ein alter Mann –, der damals den Säugling im Wald aussetzen sollte. Der Hirte erzählt von den durchstochenen Füßen. Es gibt Mythenforscher, die diese durchstochenen Füße mit den durchnagelten Füßen des Christus am Kreuz vergleichen. So weit will ich gar nicht gehen; aber eines läßt sich doch konstatieren: Das Durchstoßen, Durchnageln, das Verletzen, das Blenden, das Außerkraftsetzen der natürlichen Mittel des Menschen, sich in der Welt zurechtzufinden, läßt sich an vielen Stellen in vielen Mythen der Völker nachweisen, und zwar überall dort, wo die göttliche Macht als Zeichen ihrer Überlegenheit einen Menschen in seine Schranken weisen will.
Der Hirte sagt die Wahrheit. Er sagt, er habe damals das Kind im Wald ausgesetzt, aber er habe es nicht sterben lassen. Er habe es weitergegeben, und der Knabe sei aufgewachsen in Korinth bei König Polybos.
Nun gesteht sich Ödipus ein, was er im Herzen ohnehin schon weiß: daß nur er gemeint sein kann. Noch scheut er vor dem öffentlichen Eingeständnis zurück. Seine Gattin und Mutter Iokaste allerdings macht sich nichts mehr vor. Sie hat in all den Jahren ihr schlechtes Gewissen nicht beruhigen können, daß sie sich damals bereit erklärt hatte, ihr Neugeborenes wegzugeben. Und sie sieht ein, daß sie Blutschande begangen hat,
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