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 Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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»Wanderer, geh nicht nach Theben, du wirst dort der Sphinx begegnen, und sie wird dir eine Frage stellen. Diese Frage kann kein Mensch beantworten, du auch nicht, und sie wird dich fressen.«
    Ödipus lag nicht so sehr viel am Leben, er antwortete: »Na gut, wenn ich das Rätsel nicht weiß, wird sie mich eben töten. Aber wenn ich es weiß, dann werde ich sie töten.«
    Und dann stand er der Sphinx gegenüber, und die Sphinx stellte ihm ihr Rätsel: »Um welches Wesen handelt es sich? Es hat manchmal zwei, manchmal drei, manchmal vier Beine und ist am schwächsten mit den meisten und am stärksten mit den wenigsten Beinen.«
    Ödipus überlegte nicht lange. Er antwortete schlicht und gerade: »Es ist der Mensch. Der Mensch kriecht als Säugling auf vier Beinen, als Erwachsener geht er auf zwei Beinen, und im Alter, wenn er einen Stock braucht, geht er auf drei Beinen. Am schwächsten ist er als Säugling, am zweitschwächsten ist er im Alter, am stärksten ist er als Erwachsener, wenn er auf seinen zwei Beinen steht.«
    Da bekam die Sphinx, man möchte sagen, einen Anfall, sie schrie auf und stürzte sich über den Felsen hinunter zu Tode.
    Ödipus zog als Befreier in die Stadt Theben ein. Er wurde als Befreier gefeiert, und Kreon, der Bruder der Iokaste, der nach Laios’ Tod die Regierungsgeschäfte in Theben übernommen hatte, wurde von den Bürgern gezwungen, zu Ödipus zu gehen und zu sagen: »Du sollst unser König sein. Du hast die Stadt von der Sphinx befreit, du sollst über diese Stadt herrschen und sollst die Königin zu deiner Gemahlin haben.«
    Nun glaubte Ödipus, daß er endlich eine Heimat und eine Aufgabe gefunden habe. Er stimmte dem Angebot der Bürgerschaft von Theben gern zu. Er heiratete Iokaste, seine Mutter, wie vom Orakel in Delphi vorhergesagt, und er wurde König von Theben.
    Er war ein guter, ein weiser und ein liebevoller König. Aber dann kam die Pest über Theben und raffte viele Bürger hinweg. Bei Katastrophen wie der Pest oder auch anderen Katastrophen, auch bei Kriegen, gingen die Griechen immer davon aus, daß sie nicht natürliche oder historische Ursachen hatten, sondern daß sie als Strafen von den Göttern geschickt wurden. Also wurden Nachforschungen angestellt: »Was«, wurde gefragt, »was haben wir angestellt, was war unser Vergehen, daß uns die Götter auf diese Art und Weise strafen?«
    Also begab sich wieder einmal ein Bürger der Stadt Theben nach Delphi, um zu erfahren, was die Schuld der Stadt sei.
    Die Pythia blickte zur Seite und sagte nur einen Satz: »Vertreibt den Mörder eures Königs Laios aus der Stadt, dann wird die Pest verschwinden.«
    Der Sohn hat den Vater getötet, ohne daß er es wußte, und gerade in der Tatsache, daß Ödipus keine Ahnung von seinem Schicksal hatte, keine Ahnung davon hatte, daß in Erfüllung gegangen war, was ihm das Orakel prophezeit hatte, gerade in dieser Unwissenheit, seiner reinen Ahnungslosigkeit liegt seine Tragödie. Er sitzt da, und wir betrachten diesen unschuldig Schuldigen, und noch nach zweieinhalbtausend Jahren rührt uns sein Schicksal zu Tränen. Es ist kein Zufall, daß Sophokles, einer der drei großen Tragödienschreiber der griechischen Antike, dem Helden Ödipus drei Dramen gewidmet hat: »König Ödipus«, »Ödipus auf Kolonos« und schließlich die Tragödie »Antigone«.
    Aus Delphi verlautet: »Vertreibt den Mörder des Laios!«
    Und Ödipus schickt zusätzlich, was die Tragödie noch verschärft, dem Mörder des Königs Laios einen Fluch hinterher: »Er soll verflucht sein auf ewige Zeiten«, ruft er und verflucht damit sich selbst.
    Die Pest wütet weiter, das Volk erwartet von seinem König Erlösung. Ödipus in seiner Ratlosigkeit läßt Teiresias rufen. Teiresias ist einer der bedeutendsten Seher des Altertums. Ödipus holt ihn, um von ihm Rat zu erbitten, denn zum Orakel in Delphi wollte er nicht noch einmal gehen.
    Teiresias sagt: »Die Götter werden erst zufrieden sein, werden erst dann die Pest von Theben nehmen, wenn einer der gesäten Männer für die Stadt stirbt.«
    Genaueres dürfe er nicht verkünden, sagte er, die Götter hätten es ihm verboten. – Die Götter wollten dem grausamen Spiel wohl nicht die Dramaturgie nehmen. Das Leid der Menschen hatte seit je großen Unterhaltungswert für sie.
    Die gesäten Männer, wir wissen es, sind die Vorfahren der Spartaner, die aus den Drachenzähnen gewachsen sind wie die Pflanzen aus dem Boden. Und nun kommt es zu einer neuen Verwicklung, zu

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