Sagen des klassischen Altertums
zu.
»Ich bin in allem deiner Meinung«, sagte er. »Du und ich, wir sind die Anwärter auf den Thron, und ich sage dasselbe wie du: Wer das goldene Lamm vorweisen kann, der ist der König. Das hat mir Zeus im Traum gesagt. Gehen wir jetzt beide nach Hause, schauen wir in unsere Kammer, vertrauen wir dem Ratschlag des Obersten Gottes!«
Da mußte Atreus kichern, und er antwortete: »Du bist ein einsichtiger Mann, mein Bruder. So werden wir es machen.«
Aber Thyestes wies vor allem Volk das ausgestopfte Lamm vor und forderte den Thron.
Atreus wußte nun, daß er von seinem Bruder betrogen und bestohlen worden war. Der Haß wuchs noch mehr, und er flehte zu Zeus um Rache.
Und tatsächlich, Zeus hatte größeres Wohlgefallen an Atreus als an Thyestes. – Diese Geschichte erinnert uns von Ferne an zwei andere, zwei biblische Brüder, die auch von Gott nicht gleichermaßen geliebt wurden, Kain und Abel. Und wir wissen, was daraus geworden ist.
Zeus sagte zu Atreus: »Berufe auch du eine Volksversammlung ein und sage folgendes: Wer von uns beiden die Sonne, wenn sie am Mittag steht, zwingen kann, in die andere Richtung zu wandern, so daß sie nicht im Westen, sondern im Osten untergeht, der soll der tatsächliche König sein.«
Atreus sagte: »Wie soll das einer können? Wie soll ich das können?«
Und Zeus sagte: »Das werde ich dir machen.«
Atreus berief also eine neue Volksversammlung ein, er sagte: »In dieser Nacht hatte ich ebenfalls einen Traum. In diesem Traum hat mir Zeus einen Auftrag gegeben. Ich soll euch folgendes verkünden: Wer von uns beiden – Thyestes oder ich – die Sonne am Mittag anhalten und sie zurückzwingen kann nach Osten, so daß sie im Osten aufgeht und wieder im Osten untergeht, der soll nun tatsächlich euer König werden.«
Thyestes dachte, nun sei sein Bruder Atreus verrückt geworden, und er stimmte grinsend zu.
So standen sie alle auf dem Marktplatz und warteten, bis es Mittag war, stellten Stöcke auf, die Schatten warfen, zeichneten mit Kreide Striche neben diese Stöcke, damit sie sofort sahen, wohin der Schatten fiel.
Und tatsächlich, als es genau Mittag war, hielt Helios, der Sonnengott, die Rosse an, drehte seinen Wagen das erste Mal seit der Entstehung des Universums auf der Stelle um und fuhr in dieselbe Richtung, aus der er gekommen war, nämlich nach Osten.
Das Volk aber machte Atreus zu seinem König, und Thyestes wußte, vor diesem König mußte er sich in acht nehmen, denn der konnte nur im Bunde sein mit dem höchsten Gott.
Thyestes floh und nahm sich vor, nie wieder in seinem Leben auch nur in die Nähe von Atreus zu kommen.
Atreus war nun der Herrscher. Aber der Haß auf seinen Bruder Thyestes war dadurch, daß er alles gewonnen hatte, noch lange nicht gestillt. Der Haß ist von Tatsachen unabhängig. Er sann weiter nach Rache, er sann weiter danach, wie er seinen Bruder noch mehr demütigen und verletzen könnte. Er sandte Herolde ins Land, sie sollten seinen Bruder finden und ihm mitteilen, Atreus habe Einsicht gewonnen, er sei in sich gegangen, er wolle, daß Thyestes zurückkehre zu ihm und seiner Familie, er wolle sich mit ihm aussöhnen. Endlich solle ein Schlußstrich gezogen werden unter diesen grauenhaften, nun schon Generationen überdauernden Haß.
Thyestes glaubte seinem Bruder. Er zog mit seiner Familie, seinen beiden kleinen Söhnen und seiner Frau zu Atreus.
Er wurde mit schönstem, größtem Prunk empfangen. Die Frau des Thyestes wurde in ihre Gemächer geführt, von Sklavinnen verwöhnt. Atreus selbst führte die beiden Söhne des Thyestes, seine Neffen, in den sonnendurchfluteten Garten, wo die wunderbarsten Spielsachen auf sie warteten.
Und schließlich fiel Atreus vor seinem Bruder auf die Knie, und er bat die Familie des Thyestes: »Laßt uns beide Brüder eine kurze Zeit allein. Wir wollen uns in die Augen sehen. Wir werden dann alle zusammen ein großes Fest feiern, aber zuerst möchte ich mit meinem Bruder Thyestes allein sein.«
Das sah die Frau des Thyestes ein, und die Kinder sahen es auch ein, eben weil draußen so wunderschöne Spielsachen waren. Und Thyestes war gerührt von diesem Vorschlag, und er folgte seinem Bruder Atreus in das Kellergewölbe des Schlosses.
Dort, in einem fensterlosen Raum, wo nur Fackeln brannten, setzten sich Atreus und Thyestes gegenüber, und Thyestes fragte: »Warum führst du mich gerade hierher in diesen düsteren Raum?«
Atreus antwortete: »In diesem düsteren Raum habe ich all die Jahre
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