Sagen des klassischen Altertums
um dich getrauert. Einmal am Tag war ich hier unten und habe mich nach dir gesehnt und habe auf den Haß geflucht, der uns beide trennt.«
Und Atreus sprach weiter: »Tu mir einen Gefallen, Bruder: Bevor wir unser großes Fest feiern, laß uns beide hier gemeinsam essen. Ich möchte dich bedienen. Du ganz allein sollst hier mein Gast sein.«
Thyestes war noch mehr gerührt durch diese Demut seines Bruders, und er stimmte zu.
Atreus brachte eine Schüssel mit Fleisch. Er legte seinem Bruder vor, und Thyestes aß.
Nachdem er gegessen hatte, fragte Thyestes: »Wie ist es dir ergangen in all den Jahren, Bruder? Was hast du gemacht?«
Atreus sagte: »Ich habe mich mit Astronomie beschäftigt und auch etwas mit Kunst.«
Und Thyestes fragte: »Mit Kunst? Das ist interessant.« – Er war verlegen, er wollte das Gespräch mit seinem Bruder nicht abreißen lassen.
Atreus sagte: »Ja, mit Kunst habe ich mich beschäftigt, ein wenig mit Bildhauerei. Möchtest du sehen, was ich gemacht habe?«
»Ja, selbstverständlich«, sagte Thyestes, »ich würde sehr gerne etwas sehen.«
Atreus ging und kam zurück mit einem Tablett. Auf diesem Tablett waren zwei merkwürdige Figuren. Es waren zwei kleine Köpfe, man sah sie nur von hinten. Von den Köpfen standen die Hände ab, und unten waren zwei Füße. Es sah aus wie ein Kopf ohne Körper, ohne Torso. Und das Ganze konnte Thyestes obendrein nur von hinten sehen, denn sein Bruder hatte das Tablett gedreht.
Thyestes war nun noch mehr verlegen, denn er dachte sich: Das sind ja Mißgeburten. Das kann nicht der Ernst meines Bruders sein, daß er solche Dinge macht.
Atreus fragte ihn treuherzig: »Gefallen dir diese Figuren?«
Thyestes wollte ihn nicht beleidigen und sagte: »Ja, sie gefallen mir schon. Aber ich habe das Gefühl, es fehlt ihnen der ganze Mittelteil. Vielleicht täusche ich mich ja, vielleicht sollte ich sie einmal von vorne sehen.«
Atreus sagte: »Ja, du solltest sie von vorne sehen.«
Er drehte das Tablett um, und da erkannte Thyestes, daß es die Köpfe und Glieder seiner beiden Söhne waren.
Atreus sagte: »Du hast dich für ihren Mittelteil interessiert, für ihre Körper. Die hast du gerade gegessen.«
Thyestes übergab sich, erbrach das Fleisch seiner Söhne, und er lief aus dem Haus.
Er hatte von nun an nur noch einen einzigen Gedanken: Wie er sich an seinem Bruder Atreus rächen könnte. Als erstes suchte er einen Seher auf, weil er wußte, mit natürlichen Mitteln konnte er gegen dieses Scheusal nicht ankommen.
Der Seher sagte zu ihm: »Nimm dich in acht, Thyestes. Nimm dich in acht vor der Rache. Die Rache ist nur über einen grausamen Weg zu erreichen.«
»Das ist mir egal«, sagte Thyestes, »ganz egal ist mir das! Ich will Rache!«
»Gut«, sagte der Hellseher, »du sollst deine Tochter vergewaltigen, und wenn sie einen Sohn zur Welt bringt, wird er dich rächen. Er wird deinen Bruder töten.«
Thyestes überlegte nicht lange und suchte seine Tochter auf. Sie war noch ein junges Mädchen, das von alledem nichts wußte, weil ihre Mutter sie von dem Haß der beiden Brüder fernhalten wollte. Thyestes sah sie, wie sie gerade ins Wasser stieg, um sich zu baden, bei einem Wasserfall war das, und er hatte kein Mitleid mit seinem Töchterchen, er wollte nur die Rache. Er stürzte sich auf sie und vergewaltigte sie.
Sie brachte den Aigisthos zur Welt. Dieser Knabe wurde von Thyestes wie eine Killermaschine erzogen. Als Siebenjähriger tötete er Atreus mit demselben Schwert, mit dem er zuvor seine Mutter, die ihn an dieser Tat hindern wollte, getötet hatte.
Und damit war der Fluch weitergesponnen. Das Töten und Hassen hatte sein Ende noch nicht gefunden.
Agamemnon und Orest
Von Klytaimnestra – Von Iphigenie – Von der Pflicht
zur Rache – Von Aigisthos – Von den Göttinnen
der Rache – Von der Vergebung
Atreus hatte zwei Söhne, Agamemnon und Menelaos. Agamemnon, der König von Mykene, war der große Heerführer der Griechen vor Troja, der Völkerfürst, wie er bei Homer auch genannt wird. Er hat die verschiedenen Heere der Griechen zusammengeführt und hat als Generalissimus die Belagerung und den Angriff gegen Troja geleitet.
Menelaos, sein Bruder, herrschte über Lakedaimon, das später Sparta hieß, und war der reichste Mann in der damaligen Welt. Er war der Gatte der Helena, aber davon wird noch ausführlich berichtet werden.
Bleiben wir bei Agamemnon. Agamemnon begehrte Klytaimnestra, die Schwester der schönen Helena.
Weitere Kostenlose Bücher