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Salz auf unserer Haut

Salz auf unserer Haut

Titel: Salz auf unserer Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoîte Groult
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vermutlich muß man geraume Zeit in der Haut eines Menschen verbringen, der einem nicht ähnelt, ehe man zu dem wird, der man ist. Oder vielleicht hat man auch all diese vielfältigen Figuren in sich und muß sich von einer befreien, ehe man zur nächsten werden kann. Jedenfalls hatte ich mich soeben der demütigen und schmerzerfüllten George wie einer toten Haut entledigt. Ich hatte die Rolle bis zum Schluß durchgehalten, ich hatte alle herkömmlichen Auftritte absolviert, alle einschlägigen Repliken ausgesprochen bis hin zur Schlußszene, die so klassisch und gewöhnlich war, daß ich glaubte, sie schon hundertmal im Kino gesehen zu haben. Plötzlich entdeckte ich an mir eine ganz neue Fähigkeit zum Glück und eine unerwartete Bereitschaft zum Lachen und zum Leichtsinn. Das Härteste im Unglück ist nicht so sehr das Unglücklichsein als die Tatsache, daß man sich des Lebensminimums an Sorglosigkeit beraubt fühlt, der Zuflucht zum Lachen, besser noch zum rettenden Lachkrampf, der einen inneren Kurzschluß bewirkt und einen schnaufend zurückläßt, bis ein tiefer Seufzer die Spannungen endgültig löst. Das Unglück ist entsetzlich ernst. Meine erste Handlung als freie Frau bestand darin, mir ein Fahrrad zu kaufen. Eine symbolische Handlung. Ohne es zu bemerken, hatte ich seit meiner Heirat auf so vieles verzichtet: auf eine Anstellung an einem Gymnasium in Abidjan, weil Jean-Christophe nur in Paris leben konnte; auf den Gemeinschaftskauf eines kleinen Kutters in Concarneau, weil Jean-Christophe seekrank wurde; auf Gruppenreisen nach Athen, nach Moskau, nach Mexiko, weil Jean-Christophe weder Gruppen (und schon gar nicht Lehrergruppen) ertragen konnte noch verplante Ferien, erst recht nicht, wenn sie von Tourisme et Travail organisiert waren, was damals mehr Ähnlichkeit mit der Pfadfinderbewegung als mit dem Club Méditerranée hatte; und schließlich auf Fahrradtouren durch Frankreich, weil mein Mann Radfahren verabscheute. Motorradfahren, Segelfliegen und Bridgespielen hingegen liebte er, drei Tätigkeiten, die mir gleichermaßen Schrecken einjagten. Meine zweite Handlung bestand darin, den Bridgetisch zusammenzuklappen und in den Keller zu stellen. Meine Sonntage gehörten wieder mir! Befreit war ich von jenen Nachmittagen, an denen ich lediglich angesprochen wurde, wenn man mir klarmachen wollte, wie katastrophal mein Reizen war, und an denen unsere brillantesten Freunde sich mit bestürzender Beharrlichkeit in eine absolut elementare Sprache zurückzogen. Das Bridgespiel schließt Lachen aus. Dabei gelang es mir nicht, es ernst zu nehmen, wodurch ich mir den heiligen Zorn meines Mannes zuzog und unsere Sonntagabende vergiftete, an denen er die Spiele des Nachmittags kommentierte in der Hoffnung, mich zu belehren, und Mutmaßungen darüber anstellte, was aus dem Spiel geworden wäre, wenn ich zum Beispiel meine Cœurfarben richtig angesagt hätte. Schließlich habe ich es dann angesagt, das Herz, und wir haben uns, ohne allzu viele Scherben zu machen, scheiden lassen, nach dem Prinzip der beiderseitigen Schuld, »wobei das Kind aufgrund seines jungen Alters der Mutter zugesprochen wird« ‒ eine Rechtsformel, die den Stolz der Väter schont, denn die hätten es damals in ihrer Mehrheit als eine Katastrophe empfunden, ihre Freiheit mit einem Kind am Hals wiederzuerlangen. Daß ich mich scheiden ließ, habe ich Gauvain nicht einmal mitgeteilt: Es würde sich schon bis zu ihm herumsprechen. Wir schickten uns lediglich Glückwunschkarten für den Familiengebrauch, und es gelang mir nur hin und wieder, eine zweideutige Formulierung hineinzumogeln, die außer mir vermutlich niemand verstand, mit der Absicht, jene schwache Glut der Erinnerung zu erhalten, die noch immer unter der Asche schwelte. Wie dem auch sei, die Liebe erschien mir damals nicht mehr als eine Priorität. Was Jean-Christophe betraf, so heiratete er sehr bald wieder, und zwar nicht die Dame, die meine vielen Tränen auf dem Gewissen hatte. Es kommt ja vor, daß der Schiffbruch eines Ehepaares auch denjenigen ‒ oder diejenige ‒ mit ins Verderben reißt, der ihn verschuldet hat. Daß ich mich darüber freute, gereichte mir sicher nicht zur Ehre… aber die Ehre hing mir aus gutem Grund zum Hals heraus. Ich träumte vom unabhängigen Leben und von neuen Horizonten. Als mir ein Lehrauftrag für Vergleichende Literaturgeschichte in Wellesley angeboten wurde, nahm ich ihn mit Begeisterung an und zog mit meinem achtjährigen Sohn nach

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