Salz auf unserer Haut
ihrer Meinung nach um alten Krempel handelte, der verriet, daß man hinter dem Mond daheim war. »Mein« Gauvain würde also neben dieser grauhaarigen Frau schlafen, die immer ein wenig nach Schweiß roch, unter dieser Steppdecke aus altrosa Satin! Würde allabendlich einschlafen unter dem Photo von der eigenen Hochzeit und den vier Porträts der Eltern in ovalen Rahmen, an denen je ein Buchszweig steckte; würde einschlafen gegenüber einer hochglanzlackierten Louis-XVKommode aus dem Katalog, auf der fünf silbergrüne Farnwedel und drei violette Tulpen aus Plastik in einer facettierten Bleikristallvase prangten.
Aber wozu versuchte ich denn auch, Gauvain und Lozerech in Einklang zu bringen? Auch ich stimme ja nicht überein mit der Frau, die so oft ans Ende der Welt gereist ist, die Anstandsdame am Rockzipfel, auf der Suche nach jenem geheimnisvollen Schauer, der auf nichts beruht, was menschliche Worte ausdrücken könnten. Wir alle haben unsere verschiedenen Facetten, ähnlich wie Marie-Josées Vase. In den beiden ersten Jahren ‒ vier wollte er dort verbringen ‒ hatte Lozerech womöglich mehr Geld verdient als in seinem ganzen Leben. Sobald seine riesigen Langustenbehälter voll waren, nahm er Kurs auf das Kap, lud dort tonnenweise seine Monster ab, die lebend an einen Fischgroßhändler in Lorient versandt wurden.
Er »lebte« nicht mehr, zumindest nicht im üblichen Sinn des Wortes. Er belauerte den Meeresgrund, überwachte seine Langleinen, versuchte in dieser schäumenden Landschaft nicht wahnsinnig zu werden, und wartete auf den Tag der Pensionierung. Die Langusten hatten das Leben seiner Familie verändert. Sie hatten ihm erlaubt, sein Haus zu vergrößern und seinen ältesten Sohn, der promovierter Chemiker war, für zwei Jahre nach Amerika zu schicken. Joël hatte sein eigenes Auto, einen speziell für einen Behinderten ausgerüsteten 2 CV. Eine der Töchter unterrichtete in Rennes, die andere war Stewardeß. Marie-Josée hatte sich drei Goldzähne machen lassen, vorne, wo jeder sie sah. Im Grunde konnten alle den Langusten dankbar sein. Ich hatte lange gezögert, ihm meine Heirat mit François anzukündigen, aber mehr noch befürchtete ich, daß er es über seine Frau erfahren würde. Ich wußte, daß er dies als eine Art Verrat betrachten würde, obwohl ja auch er sich für die Distanz entschieden hatte. Im übrigen schrieb er mir eine Zeitlang nicht mehr, ohne daß für mich erkennbar geworden wäre, ob er es aus persönlichem Groll oder aus Takt François gegenüber unterließ, den er gerne mochte. Vielleicht war auch meinerseits ein Taktgefühl François gegenüber im Spiel ‒ obwohl ich mich von derlei Empfindungen sonst nicht gerne einengen ließ ‒, wenn ich allmählich in der Vergangenheitsform an Gauvain dachte. Ein Ereignis stellte alles wieder in Frage: der Tod meiner Mutter. An einer Straßenecke in Paris war sie von einem Lieferwagen angefahren worden. Maman hatte die Straßen immer wie im Zeitalter der Kutschen überquert, ohne Rücksicht auf Ampeln und Zebrastreifen; sehr bestimmt hob sie den Arm, um den Kutschern den Befehl zu erteilen, langsamer zu fahren. Der Fahrer des Lieferwagens hatte seine Motorpferde nicht rechtzeitig zügeln können, und meine Mutter, die über die Fahrbahn geschleift wurde, erlag ein paar Tage später ihren zahlreichen Verletzungen und Knochenbrüchen; wahrscheinlich war sie noch im Tod empört über die schlechte Erziehung der Fahrer von heute. Sie war achtundsechzig Jahre alt und kerngesund gewesen; auch hatte sie die Absicht gehegt, sich noch eine hübsche Scheibe vom Leben abzuschneiden, so daß ich es immer auf später verschoben habe, mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß sie eines Tages nicht mehr denselben Planeten wie ich bewohnen könnte. Während ihrer letzten, bewußtlosen Tage, die ich neben der stumm liegenden Gestalt verbrachte, entdeckte ich mit Entsetzen, daß ich zeit meines Lebens nie wieder diesen einfachen kleinen Satz »Hallo, Maman« würde aussprechen können. Mit ihrem Tod nahm sie mir das erste Wort der Sprache, das Wort, auf dem meine Sicherheit im Leben beruhte. Das ist der erste, manchmal auch der einzige Verrat einer Mutter, wenn sie einen ohne Vorwarnung verläßt.
Jedesmal wenn François »Maman« erwähnte, stiegen mir die Tränen in die Augen. Fortan vermied ich dieses Wort.
Ich hatte Gauvain geschrieben, um ihm den Tod meiner Mutter mitzuteilen. Zu ihm konnte ich über sie sprechen: Sie hatte ihm oft genug die Ohren
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