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Salz auf unserer Haut

Salz auf unserer Haut

Titel: Salz auf unserer Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoîte Groult
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langgezogen und ihn »du kleiner Gauner« genannt, so daß er im Lauf der Jahre eine gewisse Zuneigung zu ihr entwickelt hatte.
    Der Verlust zwang mich dazu, Bilanz zu ziehen: Worauf konnte ich noch zurückgreifen? Es blieb mir noch ein einziger Mensch auf Erden, der mich bedingungslos liebte, und nun würde ich auch ihn, ohne etwas dagegen zu tun, ziehen lassen. Denn der Tag seiner Pensionierung würde das absolute Ende jeglichen gemeinsamen Plans bedeuten. Plötzlich ertrug ich den Gedanken nicht mehr, ihn ebenfalls in der Bildergalerie meiner Erinnerungen aufgehängt zu sehen. Trotz der ungetrübten Harmonie, die zwischen François und mir herrschte, spürte ich, daß es noch immer lebendig war, das verrückte junge Mädchen, das zur Insel, zu den Inseln am Ende der Welt lief, um diese »Flamme« wieder auflodern zu lassen, die aus der Liebe das Gegenteil des Todes macht. Und ich wußte auch, daß meine Mutter es gutgeheißen hätte, daß ich für zwei lebte. Auch sie war von dieser Lebensgier befallen gewesen, und nie konnte sie sich bereitfinden, an irgendeiner Front den Kampf aufzugeben. Man muß lernen, den andern manchmal untreu zu sein, um es sich selbst gegenüber nicht zu sein: Das war einer ihrer Grundsätze. Die Umstände boten mir eine ideale Gelegenheit: Seit zwei Jahren verbrachte ich jeden Herbst einen Monat im Staat Quebec, um an der Universität Montreal Vorlesungen zu halten, und dort stellte man mir für die Zeit meines Aufenthalts eine kleine Wohnung zur Verfügung, wo ich problemlos jemand mit aufnehmen konnte. Im Jahr zuvor hatte ich Loïc mitgenommen, der für das Fernsehen inszenierte und für Radio Kanada arbeitete. Die schwierigste Aufgabe war, Gauvain zu überzeugen, ihm den Mut einzuflößen, seine zu Recht mißtrauische und weinerliche Ehefrau zu belügen. Für einen Seemann, der ohnehin so wenig Zeit mit seiner Familie verbringt, ist Urlaub und erst recht das Rentnerdasein nirgendwo anders denkbar als zu Hause.
    Ich beschrieb ihm, wie das Sterben meiner Mutter meine Gedanken beeinflußt hatte, und vermutlich wurde ich mir erst beim Schreiben der dringenden Notwendigkeit bewußt, ihn wiederzusehen. Ich zog alle Register, um die Liebeswunde in ihm erneut aufbrechen zu lassen. Inzwischen kannte ich ihn gut genug, um zu wissen, an welcher Stelle seines Panzers ich den Dolch ansetzen und wie ich die Klinge drehen mußte, bis auch er keinen anderen Wunsch mehr in sich spürte als den einen: mich in seinen Armen festzuhalten und noch einmal dem Taumel nachzugeben, der ihm den Sinn für Gut und Böse raubte.
    Daß ich ihn in dieser für mich schweren Zeit brauchte, erschütterte ihn. Unsere Briefe, die zunächst nostalgisch getönt waren, wurden allmählich zärtlich und schließlich ‒ ein Wort gab das andere ‒ so glühend, daß es uns unmenschlich erschien, an eine Zukunft zu denken, die uns nicht noch einmal einen jener Augenblicke außerhalb der Zeit gönnen würde. Diese Augenblicke hatten unserem Leben eine Dimension gegeben, die wir nicht definieren konnten, von der wir aber spürten, daß sie wesentlich war.
    Sich von der Liebe zu schreiben ist an sich schon eine Lust, eine raffinierte Kunst. Jeder Brief, jeder einzelne seiner seltenen Telephonanrufe, jedes »Ich liebe dich« kam mir vor wie ein Sieg über die Macht des Alters und des Todes.
    Gauvain zu einem Grad physischer und emotionaler Erektion zu verführen, der ihn glauben ließ, er habe selbst die Initiative zur nächsten Begegnung ergriffen, war eine Wonne. Bei ihm wiederum wurde die Tiefe seines Gefühls für mich allmählich so etwas wie Talent. Er, der doch nur an Pflicht und Würde der Arbeit glauben wollte, fand, um mir zu schreiben, die Worte der Dichter. Er nannte mich seinen »Lebenshauch«, seinen »Atem«, seine »Wahrheit«.
    Sechs Monate nach dem Tod meiner Mutter hatten wir beschlossen, uns im Herbst in Montreal zu treffen, unmittelbar vor seiner Abreise zur Fangsaison. Er konnte sich nicht mehr hinter dem Vorwand der notwendigen Sparsamkeit verbergen: Er verdiente wirklich genügend Geld, um sich ohne allzuviel schlechtes Gewissen ein Ticket nach Kanada zu leisten. Er sprach es nicht offen aus, aber er begann nun auch, seine Rückkehr in die Welt der Erdbewohner zu fürchten, ahnte er doch, daß in dieser Welt ein Rentner des Meeres zu nichts nutze ist und dementsprechend schnell zum Greis zu werden droht. Aus dieser dumpfen Furcht schöpfte er den Mut, seiner Frau eine Lüge aufzutischen. Er lieferte ihr eine

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