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Salz auf unserer Haut

Salz auf unserer Haut

Titel: Salz auf unserer Haut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benoîte Groult
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derart unerwartete Erklärung, daß sie vollkommen verdutzt war: Er wollte sich »mal den kanadischen Norden anschauen«, da ein Freund aus Quebec, den er am Kap kennengelernt habe, ihn zu sich nach Hause eingeladen habe. Ein so dicker Hund geht oft besser durch als ein sorgfältig zusammengetüfteltes, sauberes Alibi.
    Der Plan nahm Gestalt an. Ich war glücklich mit François, aber eine kindliche Fröhlichkeit mischte sich nun in mein Glück. Das Leben gewann wieder romanhafte Farben, und ich fühlte mich zwanzig Jahre jünger. Paradoxerweise teilte ich Gauvains alltägliche Ängste und Gefühle, seit er vor Südafrika arbeitete, viel mehr als zuvor. Er hatte sich angewöhnt, mir fast jeden Abend ein paar Zeilen zu schreiben, nachdem er für die Nacht festgemacht hatte, irgendwo über der Untiefe, wo der Seegang ein wenig schwächer war. Seinen Bericht über die kleinen Ereignisse des Tages schrieb er, wenn das durchgängig schlechte Wetter einigermaßen »beherrschbar« wurde, wie er das nannte. Und jedesmal wenn er am Kap seine Ladung löschte, schickte er mir ein ganzes Päckchen loser, karierter Blätter. Im Laufe der Wochen wurde dieser Notizblock aus Südafrika zu einem bemerkenswerten Dokument, das ohne Kunst, aber auch ohne Künstlichkeit seine Tage in der Hölle beschrieb, auf dieser Korallenbank, die er als seine Arbeitsstätte betrachtete, als Flöz sozusagen, das er im Tagebau ausbeuten konnte. Was das Dokument wertvoll machte, war diese Schlichtheit, der Bruch zwischen der Kargheit der Worte, der Zurückhaltung des Tons einerseits und der Gewalt der Elemente andererseits: Die spürbar lastende Einsamkeit, die allgegenwärtige Müdigkeit, die Stürme, die zu dem ohnehin ständig schlechten Wetter hinzukamen, die Arbeitsunfälle und auch die Horrorszenen, wenn einer der Männer sich im Taucheranzug hinunter in die Langustenbehälter begeben mußte, zwischen die wimmelnden Tierpanzer, um die toten Tiere herauszuholen, die den Rest der Ladung gefährdet hätten. Das Ergebnis war ein außerordentlich spannender, ergreifender Text, der in meiner Zeitschrift für Geschichte oder sogar in der Reihe Terre humaine * nicht fehl am Platz gewesen wäre. François, dem ich die schönsten Passagen vorlas, hatte es ihm bei einem seiner Aufenthalte in Frankreich sogar vorgeschlagen, aber darüber konnte er nur lachen, mit einer so »verrückten« Idee wollte er sich gar nicht erst beschäftigen. Als ich ihn ein halbes Jahr später wiedersah, wie üblich auf einem Flughafen, erschütterte mich sein Aussehen. Fünfzig Jahre eines so harten Lebens hatten ihm inzwischen doch ihren Stempel aufgedrückt. Lozerech erschien mir eher gegerbt als gebräunt, eher zerfurcht als von markanten Falten gezeichnet, eher steif als kraftvoll. In seinen Muskelpanzer eingepfercht, hatte er begonnen, seinen Langusten zu ähneln. Was unverändert blieb, waren seine blauen Quellwasser-Augen, der Eindruck von Stärke, den er vermittelte, und auch eine rührende Selbstsicherheit, die ich an ihm noch nicht kannte und die mit seinem materiellen Erfolg zu tun hatte.
    * Ethnographische Reihe, erscheint bei Plon. (Anm. d. Übs.)
    Den Aufenthalt in Montreal hatte ich mit einer gewissen Besorgnis vorbereitet, die vollkommene Unbekümmertheit der Jugend schien mir nicht mehr ganz angebracht. Gauvain hatte sich mit der Zeit ein sublimiertes Bild von mir gemacht, und es erschien mir absolut lebensnotwendig, diesem Bild zu entsprechen. Ich war bereit, auf seine Liebe zu verzichten, aber verlieren wollte ich sie nicht! Wenn man die Fünfundvierzig überschritten hat, hinterläßt alles Spuren. Ein Monat Unterricht und Vorlesungen hatte sich deutlich negativ auf meine Fassade ausgewirkt, zumal dieses Volk von Holzfällern es versteht, auch fremdem Ahorn den Saft abzuzapfen. Hierzulande sind die Studenten lernbegieriger und diskussionsfreudiger als in Frankreich, auch weniger respektvoll, vertraulicher und gleichzeitig anspruchsvoller, ganz nach amerikanischer Manier. Man muß sich ungeheuer anstrengen, um ihnen zu gefallen und zu rechtfertigen, daß man von so weit hergeholt wurde. Das alte Europa hat seinen Prestigevorrat aufgebraucht, es genügt nicht mehr, Europäer zu sein, um sich mühelos zu verkaufen. Mit meinem ausgeprägten Hang zum Organisieren ‒ darüber hatte sich François immer lustig gemacht ‒ habe ich mich also darangemacht, alles nach Plan vorzubereiten, ähnlich wie ein Athlet sich für die Olympischen Spiele rüstet.
    Grundsatz Nummer

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