Der Fall Carnac
Erstes Kapitel
Das Abenteuer begann an einem Morgen im Juli.
Als an diesem Tag der Briefträger läutete, ahnte noch niemand, daß sich damit ein Abenteuer ankündigte.
»Ein Brief von Loute!« sagte Mama und schlitzte den Umschlag auf.
Line hob den Kopf. Sie war gerade damit beschäftigt, auf die Serviettentaschen, die sie in die Ferien mitnehmen wollten, mit Kreuzstich den Anfangsbuchstaben eines jeden Mitglieds der Familie zu sticken. Sechs Serviettentaschen mit sechs Buchstaben! Das Stielstichmuster gar nicht mitgerechnet, das Peter erst noch entwerfen sollte und das sie dann in drei verschiedenen Farben ausführen wollte... falls sie es vor der Abfahrt noch schaffte.
Sie hatte also wirklich keine Zeit zu verlieren. Aber die Briefe von Loute waren immer so lustig.
»Was schreibt sie denn?«
»Sie lädt uns in die Überholwerft ein.«
Peter, der sein Fahrrad im Garten putzte, kam eilig angelaufen.
»Was hast du gesagt? Loute lädt uns ein? Verrückt, es ist doch alles für Spanien vorbereitet!«
»Peter, bitte!«
Die Zwillinge, die gerade ein Autorennen im Hausflur veranstalteten, ließen ihre vielfarbigen Spielzeugautos im Stich.
»Ich will aber nicht in die Überholwerft!« stieß Genoveva hervor. »Ich will nach Spanien fahren!«
»Ich auch, ich will auch lieber nach Spanien!« stimmte Gerhard ein.
»Ruhe, ihr beiden!« schimpfte Peter. »Ihr fahrt ja nach Spanien. Plärrt nicht!«
Sein Strubbelkopf tauchte im Fenster auf. Line mußte lachen. Ihr Bruder konnte kein Werkzeug in die Hand nehmen, ohne sich das Gesicht schmutzig zu machen wie ein Schornsteinfeger.
»Was schreibt Loute denn nun genau?«
Genau! Das war echt Peter. Zwanzigmal am Tag benutzte er das Wort. Alles mußte »genau« sein.
»Wenn du’s genau wissen willst, sie lädt uns für die Ferien in die Überholwerft ein — nicht nach Monte Carlo.«
Peter zuckte die Achseln.
»Ist es wahr, Mama? Hat Loute uns wirklich eingeladen?«
Mama gab keine Antwort. Sie las den Brief aufmerksam noch einmal, und ihr Gesicht drückte eine Besorgnis aus, die den Kindern nicht entging.
Genoveva, die das für ein schlechtes Zeichen hielt, maulte und erklärte noch einmal mit Nachdruck: »Ich will nicht in die Überholwerft! Ich will nach Spanien!«
»Ich auch!« rief Gerhard im gleichen Ton.
»Ihr seid unausstehlich«, schimpfte Line, »die reinsten Papageien! Ich denke, ihr mögt Anne und Ludwig gern?«
»Wir können sie ja mit nach Spanien nehmen.« Währenddessen beobachtete Peter seine Mutter, und etwas in ihrem Verhalten machte ihn unruhig.
In diesem Augenblick kam Papa und fand die ganze Kinderschar um die Mutter versammelt.
»Was ist denn hier los?«
»Loute hat uns eingeladen. Wir wollen aber nicht in die Überholwerft!«
»Lies selber!« sagte Mama einfach.
Damit reichte sie ihm den Brief.
Papa überflog ihn.
Und dann bemerkten die Kinder, daß Papa, genau wie Mama eben, den Brief aufmerksam noch einmal las.
Als er damit fertig war, schaute er Mama an, die ihn während der ganzen Zeit betrachtet hatte.
»Das ist eine Einladung, die mir eher nach einem Hilferuf klingt.«
Ein wenig später erfuhren die Kinder, was in Loutes Brief stand.
Mir ist soeben eine Vertretung als Krankenschwester in der Klinik von Dr. Foix in Vannes angeboten worden, schrieb Loute. Nach den Kosten für die Instandsetzung des Daches der Überholwerft ist mir diese Stellung sehr willkommen. Ich mußte sofort annehmen oder absagen. Ich habe angenommen, da es hier kaum andere Möglichkeiten für mich gibt.
Aber ich mache mir Sorgen um Anne und Ludwig, die dann allein in der Überholwerft bleiben müssen.
»Sie sind ja schließlich keine Säuglinge mehr!«
»Still!«
Es ist während der Saison unmöglich, einen Menschen zu finden, der sich um sie kümmert. Nach Eurem letzten Brief hattet Ihr ja noch keine Pläne für die Ferien. Doch, sie hatten Pläne!
Wertn Ihr also nichts Besseres vorhabt, schlage ich vor, hierherzukommen. Die Überholwerft ist riesig — leider! Und sie verdient ihren Namen jetzt mehr denn je.
»Das heißt«, warf Line ein, »daß Loute für die Instandsetzung viel Geld ausgegeben hat.«
»Sie ist restlos abgebrannt! Genau das heißt es.«
»Das ist sie doch immer. Das ist nichts Neues...«
Während die Kinder noch ihre Bemerkungen zu Lou-tes Brief machten, dachten Papa und Mama darüber nach.
Mama deckte den Tisch zum Mittagessen.
Durch das Fenster sah sie die schmalen Gärten, wo auf kargem Boden und in
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