Salz der Hoffnung
Gelegenheit, es dieser Stadt heimzuzahlen, die sie so tief verletzt hatte. Sie war sich bewußt, daß sie sich dadurch nur noch weiter isolierte, doch das kümmerte sie nicht.
Die beiden Mädchen waren unzertrennlich. Als das letzte Schuljahr anbrach, erblühte Judith jedoch zu einer dunklen Schönheit mit olivfarbener Haut, sanften, braunen Augen und einer hinreißenden Figur, während Regal groß und schlaksig wirkte, sich mit Pickeln herumplagte und ohne viel Erfolg versuchte, ihr weiches, gelocktes Haar mit großen Schleifen zu bändigen. Judiths Mutter schien tagein, tagaus damit beschäftigt, ihrer Tochter neue Kleider zu nähen, aber wenn Regal um neue Kleider bat, sagte ihre Großmutter: »Warte, bis du dich ein bißchen entwickelst. Im Augenblick wäre es nur Verschwendung.«
Und was, wenn sie sich niemals entwickelte? Unglücklich betrachtete Regal ihre flache Brust im Spiegel. Neben Judith wirkte sie wie ein Klappergerippe. Die Jungs nahmen sie überhaupt nicht zur Kenntnis, sondern scharten sich um Judith, wollten ihr die Bücher tragen und wichen nicht von ihrer Seite. Regal neidete ihrer Freundin den Erfolg nicht, aber sie war zutiefst deprimiert. Und damit nicht genug, schien die jüdische Gemeinde ständig irgend etwas zu feiern zu haben. Judiths Leben war ein ununterbrochener Reigen aus Geburtstagen, Hochzeiten und anderen Festen, von denen Regal ausgeschlossen blieb.
»Sie wollen, daß die jungen Männer jüdische Mädchen heiraten«, erklärte Judith. »Darum werden keine nichtjüdischen Mädchen eingeladen, ganz gleich, wie nett sie auch sein mögen. Es ist nichts Persönliches, Regal.«
Nichtsdestotrotz entfremdeten die Freundinnen sich allmählich. Regal versuchte, sich ihren Kummer nicht anmerken zu lassen, während sie zunehmend vereinsamte, und versicherte Judith, sie vestehe schon. Doch in Wirklichkeit litt sie, und der altbekannte Zorn regte sich wieder. Keine jungen Männer klopften schüchtern an ihre Tür, keine Scharen junger Leute bevölkerten die Auffahrt zum prachtvollen Haus ihrer Großeltern, keine Einladungen landeten in ihrem Briefkasten. Und wenn sie sich bei ihrer Großmutter beschwerte, daß sie niemals Spaß habe, wurde sie mit einem knappen »Dafür ist später noch Zeit genug« abgespeist.
»Aber warum kann ich keine Gesellschaften ausrichten und ausgehen wie die anderen Mädchen auch?«
»Weil es nicht geht, darum. Du bleibst schön zu Hause und wahrst den Anstand.«
Was sollte das denn schon wieder bedeuten, fragte Regal sich mißmutig.
Doch bald traten andere Sorgen in den Vordergrund. Mit Großmutters Gesundheit stand es nicht zum besten. Sie klagte über Schmerzen, und der Doktor wurde gerufen. Nachdem er Ettie untersucht hatte, blieb er lange bei Großvater im Arbeitszimmer. Jessie und Mrs. Hobway flüsterten miteinander und weigerten sich, mit Regal über diese Angelegenheit zu sprechen. So wußte sie nur, daß Großmutter offenbar an einer Krankheit litt, die so entsetzlich war, daß man nicht einmal ihren Namen aussprechen durfte.
Regal tat, was sie konnte. Sie leistete ihrer Großmutter Gesellschaft, las ihr vor, brachte ihr das Essen und sah zu, wenn Jessie ihr das furchtbare Laudanum gegen die Schmerzen verabreichte. Sie weinte und fühlte sich nutzlos, wenn sie die alte Dame schreien hörte, weil die Schmerzen unerträglich wurden. Regal war erschüttert, als sie erkannte, daß ihre Großmutter im Sterben lag, und sie flehte ihren Großvater an, er möge doch irgend etwas tun, um die Qual des nunmehr so gebrechlichen Wesens dort oben im Krankenbett zu beenden.
»Niemand kann mehr irgend etwas für sie tun«, sagte er niedergeschlagen. »Niemand.«
»Wird sie sterben?«
Er wandte sich ab. »Ja.«
»Aber es muß doch irgend etwas geben, das wir tun können«, schrie sie ihn an. »Wie kannst du einfach so dasitzen und zusehen, wie sie leidet? Sie hat grauenhafte Schmerzen!«
»Laß mich zufrieden«, schrie er zurück. »Laß mich zufrieden!«
Manchmal stand Regal vor seinen Waffen und betrachtete sie. Sie konnte schießen. Er hatte ihr beigebracht, wie man mit einem Gewehr umging, hatte sie mitgenommen, wenn er sich mit seinen Freunden zum Pistolenschießen traf, denn er war stolz, daß seine Enkelin ein so
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