Salzige Küsse
größer.
»Von Ihnen«, antwortete Eve. Sie konnte nichts anderes sagen.
»Machst du das öfter, anderen Leuten Dinge stehlen?«
»Nein.« Eve spürte Tränen in sich aufsteigen.
»Sie hat ihn nicht gestohlen. Sie hat ihn dort gefunden, wo Sie ihn zurückgelassen haben«, mischte sich Lies ein.
»Vielleicht sollte er nicht gefunden werden.«
»Dann hätten Sie ihn besser verstecken müssen.« Lies schaute Belle unverwandt an. Sie schlang einen Arm um Eve und zog sie mit sich zur Tür. »Wir gehen jetzt. Sie finden das Foto auf Ihrem Bett.«
Mit zittrigen Fingern legte Eve das Porträt auf die Tagesdecke. Lies fügte das Salzbeutelchen hinzu, das sie mitgenommen und auf dem sie ihre Namen und Telefonnummern notiert hatten.
»Auf Wiedersehen.« Eve blieb eine Weile an der Tür stehen, aber Belle sagte nichts.
Ihre Hände zitterten noch immer, als sie einen Moment später ihr Fahrradschloss öffnete. »Was für eine grässliche Frau.«
»Sie ist einfach alt und traurig«, sagte Lies besänftigend.
»Und wenn schon, ich bin jung und unglücklich, darum brauche ich doch nicht so rumzuschnauzen!«, erwiderte Eve schnippisch.
»Nein, aber es hilft«, stellte Lies mit ruhiger Stimme fest.
Es war der nächste vertraute Briefumschlag mit der kritzeligen Handschrift, der meine Entscheidung endgültig machte. Ich starrte auf das Papier, das neben meinem Teller lag, und dann zu meinen Eltern, die von dem Umschlag zu mir und wieder zurück schauten. Vorsichtig glitt ich mit dem Daumen unter die Ecken
.
Früher hätte nur der Gedanke an einen neuen Brief mein Herz rasen lassen. Jetzt wusste ich, dass es kaum noch träger schlagen konnte, ohne zu stocken
.
Ich aß zusammen mit meinen Eltern, würgte ein paar Löffel Haferbrei hinunter und verbrannte mir die Zunge am heißen Kaffee. Meine Augen tränten von Mies’ starkem Gebräu. Aber mein Herz schlug dadurch nicht schneller, mein Blut strömte nicht rascher. Egal wie stark Mie den Kaffee braute und wie sehr sie den Brei süßte
.
Als Mama und Papa endlich den Tisch verließen, blieb ich allein zurück. Mit dem Brief. Ich wollte ihn aufreißen und mich an Lukas’ Worten laben. Ich hatte ihm seit Juuls Tod nicht mehr geschrieben, doch er wusste mit Sicherheit, was geschehen war. Seine Worte würden warm und umarmend, voller Verständnis sein. Sonst hätte er sicher gar nicht mehr geschrieben
.
Aber durfte ich es? Verdiente ich es? Verdiente ich, getröstet, umsorgt, geliebt zu werden? Juul hatte ich seine Chancen hierauf für immer genommen. Welches Recht hatte ich dann, diese Gefühle für mich selbst zu beanspruchen? Ich blieb lange mit dem Brief am Tisch sitzen und versuchte mit dem Papier zu sprechen. Es erwiderte nichts. Diese Entscheidung musste ich allein treffen. So, wie ich künftig alles allein entscheiden musste
.
»Nein, nein, nein. Das ist es nicht, Eve, das kannst du viel besser. Warum machst du es dann nicht?«
Hilflos schaute Eve zu Jacob, weil sie sich nicht traute Gloria anzusehen. Sie wusste selbst, dass sie es besser konnte, aber irgendwie wollte es nicht klappen.
»Vielleicht geht es heute einfach nicht«, versuchte Lies zu erklären.
»Das ist keine Entschuldigung.« Kopfschüttelnd ging Gloria zur Bar und setzte sich auf einen Hocker.
»In drei Tagen ist Generalprobe. Was soll ich nur mit euch machen?« Theatralisch warf sie die Arme in die Luft.
»Freigeben«, murmelte Philip vom Fußboden aus.
Eve blickte in die Runde. Alle hingen ein wenig rum, sie war offensichtlich nicht die Einzige, die heute keine Lust hatte.
»Freigeben«, wiederholte Gloria. »Und dann?«
»Und dann stehen wir morgen wieder hier, aber viel besser.«
»Kannst du mir garantieren, dass das funktioniert?«
Philip zögerte einen Moment, nickte aber schließlich. »Schlimmer kann es doch nicht werden«, hörte Eve ihn murmeln.
Nachdenklich lehnte Gloria an der Bar. »Einverstanden«, entschied sie plötzlich. »Ihr bekommt heute frei. Es ist mir völlig egal, was ihr mit eurem freien Tag macht, aber morgen steht ihr hier alle in Topform. Denn sonst …« Ihr strenger Blick streifte die Gruppe. »… könnt ihr euch auf was gefasst machen«, beendete sie ihren Satz drohend.
Langsam schlenderte Eve hinter den anderen nach draußen. Jacob winkte ihr zu, aber sie lächelte ihn entschuldigend an und schüttelte den Kopf. Sie wollte heute gar nichts, nicht mal Jacob.
Als wüsste sie nicht, was sie dort erwartete, fuhr Eve nach Hause. Zu ihrem großen Erstaunen
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