Sam & Emily: Kleine Geschichte vom Glück des Zufalls (German Edition)
der Schule genommen worden war.
Das Gute daran war, dass Sam nicht wusste, was er nicht wusste. Es vereinfachte die Sache.
***
Emily Bell war eine Sammlerin.
Und was sie sammelte und ordnete und bewahrte, trug sie mit sich, egal wohin sie ging.
Denn Emilys Leidenschaft galt dem Leben von anderen.
Ihre Großmutter hatte einmal gesagt, dass aus Emily noch die größte Spionin aller Zeiten werden könnte. Allerdings nur wenn Spione die Geheimnisse, die sie aufdeckten, nicht auch geheim halten müssten. Emilys eigener Schutzwall, der dazu hätte dienen sollen, ihre Gefühle vor anderen geheimzuhalten, war nämlich für alle durchsichtig. Sie verbarg selbst nichts vor den anderen, warum also sollten andere etwas vor ihr verbergen?
Das war einfach entwaffnend.
Emilys Interesse am Schicksal der Menschen um sie herum bewirkte, dass sie ihr das Herz öffneten. Es war, als besäße sie einen Magneten, mit dem sie die anderen anzog und sie ihr Innerstes nach außen kehren ließ, häufig dann, wenn sie am wenigsten darauf gefasst waren.
Und derselbe Magnet, der wohl wie ein Hufeisen geformt sein musste, bewirkte auch, dass ein Mensch sie anschaute und das Bedürfnis verspürte, sich bei ihr alle möglichen Dinge von der Seele zu reden.
Die Gabe, über die sie verfügte, hatte keinen Namen.
Emily verstand selbst nicht, was das alles zu bedeuten hatte.
Sie wusste nur, dass die Cousine des Angestellten aus dem Lebensmittelladen einmal auf einer Badematte ausgerutscht und aus dem offenen Fenster im ersten Stock gestürzt war, ihr aber nichts Schlimmes geschah, weil sie im Hof auf einer ausrangierten Matratze landete.
Was Emily aber an diesem Vorfall wirklich beschäftigte, war die Geschichte, die sich daran anschloss, weil die Cousine nämlich bei der Krankengymnastik einen Mann kennenlernte, der sie seinem Halbbruder vorstellte und diesen Halbbruder wiederum heiratete sie dann. Ein Jahr nach der Hochzeit überfuhr sie ihn nach einem heftigen Streit versehentlich mit dem Auto. Wie sich herausstellte, war es ihr Ehemann gewesen, der damals die Matratze in den Hof geworfen hatte.
Er hatte sie gerettet, nur damit sie ihn später zum Krüppel machen konnte.
Für Emily war das keine Ironie des Schicksals, sie fand es spannend.
Denn alles war miteinander verbunden, daran glaubte sie ganz fest.
Inzwischen war sie siebzehn und fragte sich, welcher Platz ihr in der großen Ordnung der Dinge wohl zugedacht war. Wann würde sich bei ihr ein Zwischenfall ereignen, der mit einem Mal ihrem Leben eine andere Richtung geben würde? Bisher war bei ihr alles wie nach Plan verlaufen. Eltern in Ordnung. Jüngerer Bruder auszuhalten. Der großartigste Hund der Welt. Eine beste Freundin, der sie durch und durch vertrauen konnte.
In ihrem Leben hatte es bisher keine Haarnadelkurven gegeben. Noch nicht einmal ein paar Schlaglöcher, die der Rede wert gewesen wären.
Aber sie hatte mit wachen Augen die Menschen in der Stadt beobachtet, in der sie aufwuchs, und sie hatte mitbekommen, wie kleine Ereignisse den großen Lauf der Dinge ändern konnten. Jeder Einzelne war für sie Teil eines Ganzen, in dem alles in Bewegung war.
Und deshalb glaubte sie an das Glück des Zufalls.
So legte sie sich das jedenfalls später zurecht.
***
Emily biss von ihrer Scheibe Vollkorntoast ab und starrte zum Fenster hinaus. Aus ihr würde nie eine Sängerin werden. Sie konnte den Ton ganz gut halten, aber das war auch das Äußerste.
Warum also musste sie am Sonntag in der Kirche unbedingt ein Solo singen?
Die Antwort saß ihr gegenüber und trank Kaffee.
Tim Bell war Musiklehrer. Außerdem leitete er seit Kurzem auch den Kirchenchor ihrer Gemeinde. Und dieser neue Posten, dachte Emily, während sie kaute, musste ihm wirklich nicht besonders viel bedeuten, sonst würde er den Leuten nicht zumuten, sich ihre Version von I’ll Be There anzuhören.
Es war nämlich noch nicht einmal ein Kirchenlied, was sie da singen sollte.
Es war der Popklassiker, mit dem die Jackson Five berühmt geworden waren. Alle hatten dieses Lied schon gehört und die Jackson Five im Fernsehen gesehen und alle wussten, wie es klingen sollte.
Was es für sie nur noch schlimmer machte.
Ihr Vater hatte da diese Theorie – er hatte zu allem eine Theorie –, dass Lovesongs auch an sakralen Orten gesungen und sozusagen neu erfunden werden konnten, wodurch sie auf einmal eine spirituelle Dimension erhielten. Dahinter steckte natürlich seine Erfahrung als Musiklehrer, dass die
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