Samuel Koch - Zwei Leben
die Ungeduld übermannt. Nicht nur deshalb bin ich froh, dass es immer neue Erkenntnisse, Ansätze und Therapieformen gibt, mit denen ich weiter daran arbeiten kann, mehr Herrschaft über meinen Körper zurückzugewinnen. Auch in dieser Hinsicht lebe ich zurzeit in einem provisorischen Zustand und mache überwiegend erhaltende Physiotherapie. In Hannover werde ich mich hoffentlich ganz neu in die Erkundung bisher unbekannter Körperwelten stürzen.
Ich bin gespannt auf meine Rückkehr in mein Studentenleben in Hannover. Ãberhaupt möglich machen mir das wechselnde Pflegekräfte, die mir 24 Stunden am Tag zur Seite stehen. Sie begleiten mich auch in die Hochschule und helfen mir bei meinen alltäglichen Aufgaben: den Lehrstoff mitschreiben, Bücher und Manuskripte halten, Assistenz beim Essen, beim Trinken, beim Computer einschalten, Anrufe entgegennehmen und Türöffnen.
Während der Klinikzeit habe ich mit Prisca, einer Schwester aus dem SPZ, mit der ich mich sehr gut verstand, schon den einen oder anderen âProbelaufâ gemacht. Nach einigen gemeinsamen Tagestouren wie Theater- oder Konzertbesuche war ich ein ganzes Wochenende nur mit ihrer Unterstützung unterwegs. Das hat wunderbar geklappt und diese Tage und Momente sind mir unter anderem als beste Zeit des letzten Jahres in Erinnerung. Ich weià daher, dass dieses Modell zwar aufwendig ist, aber funktionieren kann, und das sogar gut.
Das ist ein wichtiger Schritt zurück in eine gewisse Selbstständigkeit und Normalität für mich, aber auch für meine Eltern. Denn für sie und meine Geschwister hat sich die Welt seit dem Unfall im Ausnahmezustand befunden. Nun können und müssen sie mich ziehen lassen und ihr eigenes Leben weiterführen.
Das ist gar nicht so einfach für alle Beteiligten. Denn wir haben die Situation auch deshalb meistern können, weil wir uns alle wieder so nahegekommen sind, und das war sehr schön. Besonders in der ersten Zeit in der Klinik habe ich es genossen, dass sie ständig für mich zur Verfügung standen und mich auch ein bisschen verwöhnten. SchlieÃlich habe ich aus rein medizinischer Sicht eventuell noch die nächsten 50 Jahre mit der Lähmung zu kämpfen.
Auch die Tatsache, dass wir uns durch und durch kennen und dass vieles ganz selbstverständlich läuft, hat in vieler Hinsicht geholfen. Doch die ständige Nähe hat auch ihre Nachteile. Weder meine Eltern noch ich hatten damit gerechnet, dass ich Jahre nach meinem Auszug plötzlich wieder zu Hause sein und dazu noch in die Rolle eines etwas seltsamen Kleinkindes zurückgeworfen sein würde. Eine verkehrte Welt, die sich niemand von uns ausgesucht hat und die auch kein Dauerzustand sein kann. Wir alle haben diese Zeit nur durchgestanden, weil wir wussten, dass sie begrenzt ist.
Zwischenland
Noch nie hatte ich so viele Gelegenheiten zum Nachdenken wie im vergangenen Jahr. Ein paar dieser Gedanken habe ich hier im Buch gestreift, über die es noch viel zu sagen gäbe: sei es die Würde des Menschen, die Frage, was Freiheit ist und wie man sie erlangt, die Sache mit Gott und ob er wegschaut angesichts unseres Leids. Gerne hätte ich aus dieser Zeit allgemeingültige Antworten und Lösungen parat oder zumindest einen Tipp, den ich aus meinen Erfahrungen heraus anderen mitteilen könnte. Doch den habe ich nicht.
Bei mir reicht es höchstens zu einem âselbstbelehrendenâ Spruch à la Heinz Erhardt: âFalls fallend du vom Dach verschwandest, so brems, bevor du unten landest.â Denn es wäre wohl anmaÃend, aus der Reflektion meines bisherigen Lebens die groÃen Fragen dieser Welt allgemeingültig zu beantworten. Und auÃerdem kann sich ohnehin plötzlich alles wieder ändern.
In der Reha hatte ich ein junges, liebenswertes Mädchen namens Rebekka kennengelernt. Sie war erst 14 und aufgrund eines Tumors im Rückenmark Tetraplegikerin. Wir hatten beide eine ähnliche Lähmungshöhe und zunächst auch ähnliche Muskelfunktionen. Rebekka wirkte wie die meisten Patienten, die zum ersten Mal in ihrem Leben gelähmt durch die Räume geschoben werden, sehr verunsichert und in sich gekehrt. Sie lächelte selten. Doch wenn es dazu oder auch nur zu einem kleinen verschmitzten Grinsen kam, steckte sie alle Menschen in ihrer Umgebung damit an. Ich hatte das Privileg, mit ihr und unseren Therapeuten das
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