Samuel Koch - Zwei Leben
Schulter sonst auskugeln kann; bitte am Körperschwerpunkt ansetzen, keinesfalls den Kopf anfassen, den halte ich allein. Und so weiter.
Am selben Abend untersuchte eine Physiotherapeutin im Hotel meine Sehnen und Knochen. AuÃer Schürfwunden und einer Beule am Kopf war nichts festzustellen. Ich war zwar wie eine Strohpuppe auf den Kies geknallt, aber mein Körper will wohl keine weiteren Verletzungen mehr akzeptieren. Dies war der erste Salto seit meinem letzten gewesen.
âIch habe richtig Angst, wenn Samuel allein durch die Gegend fährtâ, sagt meine Mutter. âAber er muss einfach auch die Chance haben, mal allein und unbeobachtet drauÃen unterwegs zu sein!â
Denn was wäre die Alternative? Nur zu Hause rumfahren oder nur in Obhut? Das ist für mich keine schöne Vorstellung.
Schon in Nottwil habe ich mir sehr gerne solche Auszeiten genommen. Von meinem Fenster aus hatte ich immer einen Hügel mit einem einsamen Baum darauf bewundert. Dort wollte ich endlich einmal hin. Ich habe mich allein auf den Weg gemacht und es tatsächlich bis beinahe zu der Stelle geschafft. Doch dann, als ich meinen Elektrorollstuhl in eine gemütliche Liegeposition brachte, um in den Himmel zu schauen, rutschte mein Arm seitlich vom Steuerungselement, und ich konnte ihn nicht mehr hochheben.
Fast drei Stunden saà ich dort fest. Ein auf seinem Trecker vorbeifahrender Bauer, dem ich Hilfe suchend Zeichen zu machen versuchte, grüÃte zwar freundlich zurück, fuhr aber weiter. SchlieÃlich rettete mich eine Spaziergängerin aus meiner misslichen Lage.
Dennoch habe ich diesen Ausflug genossen, denn es war einfach schön, einmal allein zu sein und nichts tun zu müssen.
Um keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen: Mit dem Rollstuhl verbindet mich eine innige Hassliebe. Einerseits ist er ein hässliches Monster, das mich brutal an meine Verluste erinnert. Ich bin abhängig von dem Ding und damit von all den Atomkraftwerken, die es mit Strom versorgen.
Andererseits bedeutet er für mich mein letztes Stückchen Unabhängigkeit und Bewegungsfreiheit. Deshalb werde ich ganz nervös, wenn jemand in die Nähe des Joysticks kommt, meiner Machtzentrale, oder gar meine Hand vom Steuerungselement entfernen will. Und deshalb zögere ich es abends so lange wie nur möglich heraus, ins Bett zu gehen, denn wenn ich da erst mal liege, ist auch das letzte bisschen Freiheit aus meiner Hand geglitten.
14. Es geht weiter
In den letzten anderthalb Jahren bin ich so vielen Leuten mit schweren Lebensschicksalen begegnet wie in der ganzen Zeit davor zusammen nicht. Auch viele der Zuschriften und Anrufe, die mich erreichten, stammten von Menschen, die von Krankheiten, Unfällen und anderen unschönen Dingen betroffen waren. Es tut meist beiden Parteien gut, sich miteinander auszutauschen, wenn man dieselben Gefühle und Schwierigkeiten kennt.
Ein solcher Weggefährte ist mein Freund Daniel. Er hatte etwa um die Zeit meines Unfalls die Diagnose Lymphdrüsenkrebs bekommen und ebenfalls fast das ganze Jahr im Krankenhaus verbracht. Sein Studium hatte er unterbrechen müssen. Wenn es ihm zwischen den Chemotherapien mal etwas besser ging, haben wir uns getroffen oder telefoniert. Durch gegenseitiges Motivieren ist zwischen uns ein besonderes Verhältnis gewachsen.
Bei einer Mottoparty meiner Schwestern zu Hause waren wir beide âSupermanâ und gaben dabei ein reichlich merkwürdiges Bild ab.
Im SPZ in Nottwil war ich von Menschen mit ähnlichen Verletzungen und Schicksalen umgeben. Einige waren ebenso schwer betroffen wie ich, wenige noch schwerer. Durch die bessere Erstversorgung von Unfallopfern sind die Ãberlebenschancen von Tetraplegikern gestiegen. Die meisten jedoch waren, wie der Name der Klinik schon nahelegt, Paraplegiker, also mit gelähmten Beinen, aber funktionstüchtigen Armen unterwegs. Fast alle waren als ebenfalls frisch Verletzte erst seit Kurzem zur Erstrehabilitation in der Klinik.
Wie Cornelia, Mitte 20, Vielseitigkeitsreiterin, nach einem Sturz vom Pferd vom Hals abwärts gelähmt und beatmet.
Alex, 18, Motorradunfall, Paraplegiker.
Nicola, 15, der âKlassikerâ: nach dem Saunabesuch in den See gesprungen, Tetraplegiker.
Judith, Mitte 40, Kreislaufschwäche, umgefallen, Tetraplegikerin.
Rebekka, 14, Tumor in der Wirbelsäule, vom Hals abwärts gelähmt.
Costa, 27, Autounfall, alle anderen Insassen
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