Samuel Koch - Zwei Leben
Wassertherapiebecken zu teilen. Sie besaà bereits einen etwas stärkeren Handgelenksmuskel und ich ein groÃes Spuckvolumen, sodass die Wassertherapie meist zu einer spritzig-lustigen Angelegenheit wurde. Bei der Physiotherapie haben wir versucht, uns gegenseitig einen Luftballon zuzuspielen. Sie machte viele Fortschritte; bei einer der letzten gemeinsamen Wassertherapien vor meiner Entlassung aus der Klinik verzeichnete sie zu meiner Ãberraschung sogar erste Geherfolge. Ich freute mich für sie und war zugleich neidisch.
Noch während ich das letzte Kapitel schrieb, erreichte mich die Nachricht, dass Rebekkas Tumor wieder gröÃer geworden war, massiver als zuvor auf ihr Rückenmark drückte und sie getötet hatte. Sie war mittlerweile 15 Jahre alt, besaà trotz ihrer Lähmung eine wunderbare Ausstrahlung und hätte so oder so ein perspektivenreiches Leben voller schöner Momente vor sich gehabt. Ein Kind zu verlieren ist meiner Meinung nach das Schlimmste, was einer Familie passieren kann.
Ein kleiner Tumor oder 60 Millisekunden können über ein Leben entscheiden. Was soll das? Ich weià es nicht. Ich kenne nicht der Weisheit letzten Schluss â geschweige denn ihren Anfang.
Mein persönlicher Super-GAU ist, abgesehen vom Tod eines Angehörigen, der, dass ich mich nicht mehr bewegen kann. Was hilft, ist die Hoffnung, dass ich eines Morgens plötzlich mit verschränkten Armen im Türrahmen stehe, kurz meiner Familie zuwinke und zum ersten Waldlauf aufbreche. Allein die Vorfreude darauf ist es mir wert, an der Hoffnung auf Heilung festzuhalten.
Wunder passieren nicht auf Knopfdruck. Aber hoffen ist erlaubt. Ich hoffe darauf, mich wieder bewegen zu können. Auch wenn der Verstand mir rät, lieber nicht darauf zu setzen, um mich nicht selbst zu enttäuschen.
Ich wurde schon oft gefragt, was ich als Erstes machen werde, wenn ich wieder laufen kann, und ich habe die Antwort schon 27-mal wieder verworfen. Denn tatsächlich würde ich wohl einfach rausgehen und loslaufen, nur um des Laufens willen. Irgendwo an einem Baum meiner Wahl anhalten, mich mit einer Hand daran abstützen und etwas von meinem Gewicht an ihn abgeben, die raue Rinde spüren. Mich dann vielleicht hinsetzen, nur um des Hinsetzens willen. Nach einer Weile die Beine überkreuzen und die Hände hinterm Kopf verschränken, einfach so, weil ich es kann.
Spätestens im Himmel werde ich all das wieder tun können, da bin ich sicher. Rebekka ist jetzt hoffentlich schon dort. Wenn ich als kleiner Junge die Sterne angeschaut habe, wurde mir allein bei ihrem Anblick schon ganz mulmig: Die Gedanken an die Unendlichkeit und die Fragen, wo wir herkommen und was nach dem Tod geschieht, bereiteten mir früher in meinem Hochbett schlaflose Nächte und machten mir Angst. Bringe ich heute dagegen meinen Rollstuhl in eine Liegeposition und betrachte den Nachthimmel, wird mir eher auf eine beruhigende Weise bewusst, was für ein kleines Rad in diesem unvorstellbar komplexen Ordnungssystem des Universums ich bin und wie wenig ich begreife oder kontrollieren kann.
Gemessen an der Unendlichkeit â der âumgekippten 8â, wie Chris und ich sie oft bezeichnen â, sind die vielleicht 50 Jahre, die ich hier auf der Erde noch vor mir habe, nur ein Wimpernschlag. Natürlich hoffe ich, dass ich sie nicht im jetzigen Zustand âabsitzenâ muss. Das wäre so brutal anders als alles, was ich mir unter meinem Leben vorgestellt hatte. Aus meiner heutigen Sicht gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder, mein Zustand verbessert sich so weit, dass ich damit leben kann â oder ich lerne, meine Situation so anzunehmen, wie sie ist.
Beides ist noch nicht eingetreten.
Aber dies ist nur das letzte Kapitel des Buches, nicht meines Lebens!
Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht.
(Hebräer 11,1)
Nachwort
Es gibt Momente im Leben, in denen die Zeit stillsteht. Plötzlich passiert etwas, das in unserer perfekt durchorganisierten Welt eigentlich nicht vorgesehen ist. Und in diesem Moment gerät alles durcheinander. Sogar die Zeit scheint zu stocken. Vielleicht, weil man ganz genau versteht, was da gerade passiert: Man will nicht, dass es passiert â aber man kann nichts dagegen tun.
So ähnlich ging es mir am 4. Dezember 2010 in Düsseldorf. Wie in Superzeitlupe kamen die Bilder von
Weitere Kostenlose Bücher