Samuel Koch - Zwei Leben
unversehrt, er Tetraplegiker â er muss zurück nach Griechenland, wo er kaum eine Chance auf Barrierefreiheit hat.
Hushan, 34, aus Teheran, als Gastarbeiter in der Schweiz vom Kirschbaum gefallen, ist jetzt auf der Suche nach einer Schweizerin, die ihn heiratet, da er in Teheran seiner Einschätzung nach kaum überleben würde.
Jeremy, um die 20, am gleichen Tag wie ich beim Skifahren verunglückt, Genickbruch, alle Extremitäten gelähmt. Er verlieà im September 2011 die Klinik auf seinen eigenen Beinen.
Herrmann, 36, beim Paragliden gegen einen Felsen geklatscht, Rollstuhl.
Rudi, 60, von einem auf den anderen Tag aus ungeklärten Gründen vom Hals abwärts gelähmt. Er war früher Konditor und seine Sahnekirschtorte hatte internationalen Ruhm erlangt. Er wird sie nicht mehr zubereiten können, jedoch bleibt das Rezept der Nachwelt erhalten, da er es an seinen Sohn weitergegeben hat.
Ein junger Soldat, der in Afghanistan ein Gefecht als Einziger seiner Gruppe überlebt hatte â aber mit einer Kugel im Hals. Eine junge Frau, die beim Schlafwandeln aus dem Fenster gestürzt war. Mafiabosse, die SchieÃereien mit einer Querschnittlähmung überlebten. Ãlscheichs, die sich strikt weigerten, sich von Frauen behandeln zu lassen. Missglückte Selbstmorde. Banale Ausrutscher mit fatalen Folgen. Jedes Schicksal hat seine eigene tragische Geschichte und jeder Betroffene seine persönlichen Verarbeitungsmethoden.
âEs gibt keine vernünftigen Unfälle!â, sagte Michael Baumberger, der Chefarzt der Klinik in Nottwil, bei meiner Einlieferung zu mir. Wie wahr.
Laut einer Statistik der Deutschen Stiftung Querschnittlähmung verteilen sich die Ursachen für eine Querschnittlähmung folgendermaÃen: 32 % Verkehrsunfälle, 31 % Erkrankungen, 13 % sonstige Unfälle, 12 % Arbeitsunfälle, 7 % Sportunfälle, 5 % Suizidversuche.
Ich erinnere mich noch an die ersten Monate in der Rehabilitation in der Schweiz. Ein Mitpatient klagte mir sein Leid und sagte dann: âWenn ich das hätte, was du hast, hätte ich mich schon längst umgebracht!â
Er war Ende 20 und Paraplegiker. Er konnte seine Arme benutzen, seinen Rollstuhl damit antreiben, selbstständig leben. Warum sagte der mir so was?
Erst war ich irritiert. Dann schockiert. Und dann tat mir der Mann leid, der so unreflektiert redete und anscheinend gar nicht wusste, was Hoffnung ist.
Auch bei vielen anderen Mitpatienten traf ich auf tiefste Depression, Verzweiflung, Unverständnis. Unablässig stellten sie sich die Frage: âWarum musste das gerade mir passieren? Warum bin ausgerechnet ich von so einem grausamen Schicksal getroffen worden?â
Klar. So ähnliche Fragen habe ich mir auch gestellt. Der Schock eines solchen Unfalls und einer solchen Diagnose mit den damit verbundenen Verlusten sind für niemanden leicht zu verkraften. Und die Frage ist, wie man mit der Vergangenheit und den Verlusten umgeht. Mir wurde von verschiedenen Leuten geraten, mich von der Vergangenheit zu verabschieden, weil ich sonst nicht nach vorn schauen könne. Es bringe ja nichts und halte einen nur auf.
Tatsächlich ist es relativ sinnlos, an Gedanken wie: âAch, wenn es doch nur anders gelaufen wäre!â festzuhalten. Manchmal tappe ich in diese Falle, aber das führt zu nichts. Ich versuche, meiner Vergangenheit nicht mehr nur nachzutrauern. Ich habe in meinem Leben schon so vieles geschenkt bekommen, so viel Spaà und so viele gute Momente gehabt, so vieles erleben und ausprobieren dürfen, wofür ich sehr dankbar bin. Wenn ich Fotos oder Videos von früher anschaue, ist mir schmerzlich bewusst, was ich verloren habe, aber ich betrachte sie auch mit einem Lächeln. Meine Erinnerungen sind mein Schatz für die Zukunft, nicht das Museum, in dem ich leblos Vergangenes stapele.
Ich will nicht bitter werden.
Dann schon eher wie Martin, der vor vielen Jahren bei einem Kletterunfall zum Tetraplegiker geworden war. Im Laufe der Zeit hat er einige Funktionen zurückerlangt und wohnt nun in einem umgebauten Bus, mit dem er bereits um die halbe Welt getingelt ist. Er erzählte mir, dass er in den letzten vier Jahren keine Nacht am selben Ort verbracht hat. Martin arbeitet inzwischen als technischer Zeichner und in der Werkstatt des Paraplegiker-Zentrums. Wir hatten von Anfang an einen besonders guten Draht zueinander. Ein witziger Typ, der seinen Weg gefunden
Weitere Kostenlose Bücher