Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
Verblüffung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Kein Wunder, ich fühlte mich wie in einem Traum, und auch mein zweiter Versuch das Eis zu brechen, war alles andere als elegant: »Kennst du mich noch?«
Sie musterte mich kurz aus ihren Mandelaugen und sagte: »Nein. Kann ich Ihnen helfen?«
Ihre Antwort brachte mich derart aus dem Konzept, dass ich nicht wusste, ob ich überhaupt weitersprechen sollte. Wenn das alles ein Irrtum war oder nur ich sie erkannthatte, würde ich mich zum kompletten Idioten machen. Trotzdem stammelte ich weiter: »Es ist lange her. In einer großen Villa auf der rechten Ramblas-Seite. Ich glaube, wir haben Verstecken gespielt und ...«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, entgegnete sie brüsk. »Sie müssen mich verwechseln.«
Dann wandte sie sich um und flüchtete sich in eine andere Ecke des Geschäfts. Rot vor Scham verließ ich den Laden; die Schubert-CD war vollkommen aus meinem Kopf verschwunden.
EINE ZAUBERLATERNE
Um mich von meiner Traurigkeit abzulenken, versuchte ich mich mit dem Gedanken zu trösten, dass dies immerhin der vermutlich außergewöhnlichste Nachmittag meines Lebens gewesen war: Nach dem Schloß und meiner Unterhaltung mit Valdemar war ich Gabriela in die Arme gelaufen, die mich nach all den Anstrengungen der letzten Tage nicht einmal erkannt hatte.
Aber warum hatte sie mich dann an der Ampel so eindringlich angesehen? Sie hatte sich sogar umgedreht, um mir einen letzten Blick zuzuwerfen, ehe sie weitergegangen war. Oder war das alles nur eine Fieberhalluzination gewesen?
Auf dem Heimweg ließ ich mir die beiden Begegnungen mit Gabriela wieder und wieder durch den Kopf gehen. Schließlich fand ich die einzig logische Erklärung: Unsere Blicke mussten sich an der Ampel zufällig begegnet sein, und sie hatte sich nur zufällig noch einmal umgedreht. Jeder dreht sich auf der Straße ab und zu um.
Ganz ohne Zweifel war dies das Mädchen, das vor dreißig Jahren mein Herz mit einem Schmetterlingskuss berührt hatte. Nur erinnerte sie sich daran leider nicht mehr. Vielleicht hatte diese kindliche Geste für sie keinebesondere Bedeutung gehabt, damals nicht und erst recht nicht heute.
Zum ersten Mal wurde mir schmerzlich bewusst, dass es anderen möglich war, mich zu vergessen. Absurderweise war ich trotz allem hoffnungslos in sie verliebt.
Zu Hause angekommen, erwog ich zunächst, ins Krankenhaus zu laufen und mich bei meinem alten Nachbarn auszuweinen. Geteiltes Leid ist halbes Leid, nicht wahr?
Doch dann überlegte ich es mir anders, ich wollte die Wunde nicht noch weiter aufreißen. Stattdessen tat ich das Einzige, was mich zuverlässig ablenkte, nämlich arbeiten. Während ich mit verschiedenen Büchern bepackt die Treppe hinaufstieg, war ich beinahe froh, dass ich den Zweitjob oben bei Titus hatte.
Nach dem obligatorischen Halt vor dem Wanderer nahm ich am Schreibtisch Platz, entschlossen, meine Arbeit ein gutes Stück voranzubringen. Nachdem ich das Inhaltsverzeichnis vervollständigt hatte, wollte ich mich nun gezielt den einzelnen Kapiteln widmen. Ich warf einen Blick auf den letzten Abschnitt »Liebe im Kleinen« und ergänzte:
#2. Mit einem Unbekannten sprechen
Dieser Punkt gehörte unbedingt hier hinein, schließlich hatte mich das Gespräch mit Valdemar zu Schubert geführt und der wiederum in den Plattenladen, wo mich Mendelssohns Venezianisches Gondellied auf wundersame Weise mit Gabriela zusammengebracht hatte. Ob mich diese Begegnung jedoch wirklich weitergebracht hatte, schien mir jetzt mehr als fraglich.
Ich verließ diesen Abschnitt für einen Moment, um mich dem »Herz in der Hand« zu widmen. Als ich für die Seminarvorbereitung noch einmal den Werther gelesen hatte, war mir eine Stelle aufgefallen, wo der Protagonist seinem Freund gegenüber eine erschütternde Betrachtung über die Mysterien der Liebe äußert; sie ist zugleich auch eine schöne Anekdote.
Zwar hatte ich den Roman als Student schon einmal gelesen, doch die für das Buch ausgewählte Passage erlangte nun einen ganz neuen Sinn, eine tragische Dimension, die sich nur dem eröffnet, der ohne Hoffnung liebt. Randvoll mit Selbstmitleid machte ich mich an die Abschrift:
Wilhelm, was ist unserem Herzen die Welt ohne Liebe! Was eine Zauberlaterne ist ohne Licht! Kaum bringst du das Lämpchen hinein, so scheinen dir die buntesten Bilder an deine weiße Wand! Und wenn’s nichts wäre als das, als vorübergehende Phantome, so macht’s doch immer unser
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