Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
Trubels auf der Straße – der sich kaum ausblenden lässt, wenn man mitten in Gràcia wohnt. Ich schlafe immer mit Schlafmaske und Ohrstöpseln.
Nein – zum ersten Mal fühlte ich mich wirklich ein sam und verlassen an einem Feiertag, und ich wollte nur, dass diese ganze Farce so schnell wie möglich vorüber ging. Ich hatte fünf ruhige Tage vor mir. Dann am Dreikönigstag das Essen mit meiner Schwester und ihrem Mann, der unter Depressionen leidet, seit ich ihn kenne. Kinder haben sie keine.
Das wird bitter, dachte ich. Ein Glück, dass am nächsten Tag das normale Leben wieder beginnt.
Getröstet durch diesen Gedanken merkte ich, wie mich langsam der Schlaf übermannte. Ob ich wohl morgen aufwachen würde? Wieder ein neues Jahr. Und wieder wird es nichts Neues bringen, war mein letzter Gedanke.
Wie hätte ich ahnen können, dass ich mich ganz unglaublich geirrt hatte.
EIN TELLER MILCH
Ich war früh aufgestanden und hatte das Gefühl, außer mir läge die ganze Stadt im Tiefschlaf. Es war so still, dass ich mir beinahe wie ein Verbrecher vorkam, als ich in meiner Küche saß und mir im Schlafanzug ein paar Scheiben Toast schmierte, anstatt wie der Großteil der Menschheit meinen Rausch auszuschlafen.
Von der kleinen Überraschung, die das neue Jahr für mich bereithielt, ahnte ich da noch nichts. Eine kleine Überraschung mit großer Auswirkung, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, der auf der anderen Seite des Erdballs einen Orkan auslöst. Ein Sturm war im Anzug, der die grauen Wände, zwischen denen sich mein Leben bis dahin abgespielt hatte, einreißen sollte.
Ich setzte Kaffee auf, zog mich an und begann den Tag zu planen. Ich fühle mich verloren, wenn ich meinen Tag nicht organisiere, selbst an einem Feiertag.
Es gab nicht allzu viele Möglichkeiten. Ich konnte die Arbeiten der Nachzügler korrigieren, die erst kurz vor Weihnachten abgegeben hatten statt am ersten Dezember, wie ich es eigentlich verlangt hatte. Ich verwarf diese Option jedoch sogleich wieder.
Vielleicht würde ich mir eine Weile das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker anschauen, obwohl Walzer nicht mein Fall sind. Doch bis dahin waren ohnehin noch ein paar Stunden Zeit.
Im Bad wusch ich mir mit reichlich Wasser das Gesicht und griff dann zum Kamm. Das Erste, was er zu fassen bekam, war ein neues graues Haar, das mit nächtlicher Hinterlist gesprossen sein musste, denn ich war mir sicher, dass es am Vortag noch nicht da gewesen war.
Okay, graue Haare sind zwar ein Zeichen von Weisheit, sagte ich mir, als ich eine Pinzette nahm und es ausriss. Aber es muss ja nicht jeder wissen, wie weise ich bin.
Graue Haare deprimieren mich noch mehr als Haar ausfall. Wenn ein Haar ausfällt, besteht immerhin noch die Möglichkeit, dass es wieder nachwächst, womöglich sogar kräftiger als vorher. Aber bei einem grauen Haar gibt es keine Hoffnung, dass es wieder schwarz wird, wenigstens nicht auf natürlichem Wege. Im Gegenteil. Wahrscheinlich wird es recht bald sogar weiß.
Von diesen düsteren Gedanken beherrscht, trottete ich durch die Wohnung. Als ich am Telefon vorbeikam, warf ich ihm einen traurigen Blick zu. Es hatte nicht geklingelt in der Silvesternacht, ebenso wenig wie am Heiligabend oder dem ersten Weihnachtstag. Und nichts deutete darauf hin, dass es am Neujahrstag anders sein würde.
Andererseits – ich hatte ja auch niemanden angerufen.
Nachdem ich es mir in einem Sessel bequem gemacht hatte, griff ich nach einem Buch, das ich mir kürzlich im Internet bestellt hatte. Es heißt They have a word for it –ein kurioses Wörterbuch mit Wörtern, die nur in einer einzigen Sprache existieren.
Einen Namen für etwas zu finden ist laut dem Herausgeber Howard Rheingold eine Methode, die Existenz eines Dings oder Zustands nachzuweisen. Wir denken und verhalten uns in einer bestimmten Weise, weil wir die entsprechenden Begriffe dafür kennen. So gesehen werden unsere Gedanken von unserer Sprache geleitet.
Einige Beispiele für solche einzigartigen Begriffe, die ich besonders schön finde, sind:
Baraka : arabisch für eine spirituelle Energie, die für weltliche Zwecke eingesetzt werden kann.
Won : koreanisch für den Widerstand gegen das Loslösen von einer Illusion.
Rasbljuto : russisch für das Gefühl, das man für jemanden empfindet, den man einmal geliebt habt, aber nicht mehr liebt.
Mokita : kiriwinisch für die Wahrheit, die jeder kennt, aber keiner ausspricht.
Aus dem Spanischen hatte der Herausgeber
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