Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
sollst sie finden«, erklärte Titus energisch.
»Wo liegt denn da der Unterschied?«
»Solange du nur suchst, ist dein Blick durch deine Erwartungen begrenzt. Es ist, als würdest du Gott unterdem Bett suchen, weil das ein naheliegendes Versteck ist. Verstehst du?«
Mir fiel erneut der Witz von dem Betrunkenen ein und ich nickte lächelnd. Titus fuhr fort: »Solange du suchst, wirst du nichts Entscheidendes finden.«
»Und was soll ich dann tun? Däumchen drehen?« »Im Gegenteil!«, sagte Titus aufgebracht. Er saß jetzt beinahe aufrecht im Bett.
Besorgt, wir könnten den Zimmergenossen wecken, schaute ich erschrocken nach rechts hinüber, doch das Bett war leer.
Der alte Redakteur packte meine Hand und sagte: »Um zu finden, musst du dich treiben lassen. Solange du deine fixen Ideen hast, wirst du unfähig sein, das zu sehen, was direkt vor deiner Nase passiert.«
Ich nickte wieder und fragte mit dem Blick auf das leere Bett nach dem alten Mann, der vor einer Woche dort gelegen hatte:
»Wo ist er hin?«
Titus lachte leise auf und erwiderte: »Wenn ich das wüsste, wäre mir der Nobelpreis in allen Disziplinen sicher.«
UNMÖGLICHES WIRD SOFORT ERLEDIGT, WUNDER DAUERN ETWAS LÄNGER
Das Referat über Kafkas Schloß war aufschlussreich gewesen, denn es hatte gezeigt, dass der Student nicht das Geringste begriffen hatte.
Das Schloß war immer mein Lieblingsroman von Kafka gewesen, vielleicht weil er der rätselhafteste von allen ist. Da er unvollendet geblieben ist, kann man nur darüber spekulieren, wie das Ende des Landvermessers K. ausgesehen hätte, der sich vergeblich abmüht, zu einem Schloss zu gelangen, das sich immer weiter von ihm entfernt.
Ob Gabriela mein persönliches Schloss war? Beunruhigt durch diese Idee, ging ich, während ich das Café an der Kreuzung ansteuerte, in Gedanken Schritt für Schritt die Handlung des Romans durch.
Der Landvermesser K. hängt, nachdem man ihn durch eine Reihe von widersprüchlichen Mitteilungen verwirrt hat, ziemlich in der Luft:
1) K. kommt in ein verschneites Dorf, weil er in den Dienst der Schlossherren berufen wird.
2) Als er sich im Dorfgasthaus einmietet, teilt man ihm telefonisch mit, dass er niemals ins Schloss gelangen wird.
3) Wenig später erhält er einen Brief, in dem man ihm bestätigt, dass er in die gräflichen Dienste aufgenommen ist.
4) Der Bürgermeister informiert K., dass das Schloss keinen Landvermesser benötigt und dass die leidige Situation auf einen Verwaltungsfehler zurückzuführen ist.
5) Am selben Tag erhält er einen Brief, in dem ihm mit geteilt wird, dass man im Schloss mit seiner Arbeit als Landvermesser sehr zufrieden ist.
6) Trotz dieses Schreibens kann K. seine Aufgabe weiterhin nicht ausüben und all seine Versuche ins Schloss zu gelangen, schlagen fehl.
Das Schloss gilt als Sinnbild für die absurdesten menschlichen Begehren, wie den Wunsch nach Unsterblichkeit oder meine Versuche, eine Kinderliebe wieder auferstehen zu lassen. Obwohl Titus gesagt hatte, dass ich, solange ich suchte, nicht finden würde, wollte ich doch einen letzten Versuch unternehmen.
Ich hatte beschlossen, dass ich, falls der wunderliche Typ mit seinem Manuskript wieder da sein sollte, sofort kehrtmachen und auch nicht mehr zurückkommen würde. Da alle drei Tische frei waren – es war ein kalter und windiger Tag –, setzte ich mich erneut an den mittleren Platz und bestellte einen Vermouth. Während ich mir die Hände rieb, um sie zu wärmen, dachte ich, dass die unwiderstehliche Anziehungskraft, die dieses Straßencafé auf mich ausübte, etwas von der Energie zwischen Mond und Erde hatte. Ich war ein lächerlicher kleiner Satellit, der um einen vergeblichen Traum kreiste.
Mit der verzweifelten Konzentration eines Menschen, der beschlossen hat, etwas zum allerletzten Mal zu tun,studierte ich jeden Passanten, jedes Detail auf der Straße ganz genau. Dass ich Gabriela noch einmal in den vorbeihastenden Menschenströmen entdecken würde, war so wahrscheinlich wie eine Nadel im Heuhaufen zu finden, dennoch blieb ich sitzen.
Wie um mir Mut zu machen, ertönte aus dem Café ein Lied von Billie Holiday, die sang: »The difficult I’ll do right now. The impossible will take a little while.«
Während ich das Lied mitsummte und mich optimistischen Fantasien hingab, passierte es. Es ging so schnell, dass ich keine Zeit hatte zu reagieren: Der Bärtige mit dem Hut bog um die Ecke, ließ sich auf einen der Metallstühle fallen und packte
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