Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
einen Moment stumm und überlegte. Dieser Typ hatte offensichtlich eine Schraube locker und ein spezielles Interesse an der Raumfahrt. Das, was ich von seinem Buch gelesen hatte, schien dazu jedoch keinerlei Verbindung aufzuweisen.
Wie als Antwort auf mein Schweigen sagte er: »Jetzt habe ich allerdings keine Zeit, mich mit der Mondfahrt zu befassen. Aber da kommen wir schon noch hin.«
Die Verwendung des Wörtchens »wir« in diesem Zusammenhang bereitete mir Unbehagen, doch ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.
»Alles zu seiner Zeit«, fuhr er fort. »Vorher sind noch andere Dinge zu erledigen.«
Er nahm einen letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse und warf mir einen verschwörerischen Blick zu. Auf einmal fiel mir ein, dass ich die Straßenkreuzung völlig unbeachtet gelassen hatte. Vielleicht war es auch besser so.
»Und welcher Spielzug ist heute dran?«, fragte ich. Langsam fand ich Gefallen an dieser seltsamen Unterhaltung.
»Herauszufinden, von wem ein Musikstück stammt, das ich sehr mag.«
»Ich kenne mich ein bisschen aus mit Musik«, erklärte ich. »Vielleicht kann ich dir helfen. Um welches Stück geht es denn?«
»Das ist ja mal eine gute Nachricht«, sagte er erfreut. »Gestern habe ich einen Film im Fernsehen gesehen, da ging es um zwei moderne Vampire in einer New Yorker Wohnung. Der eine hat seine Unsterblichkeit verloren und beginnt zu altern; vor den Augen seiner Geliebten verfällt er von Minute zu Minute, bis sie ihn schließlich als gebrechlichen alten Greis beerdigt. Zwischendurch erklingt immer wieder so ein trauriges Klavierstück, und ich wüsste gern, von wem es ist. Im Abspann habe ich es verpasst.«
»Sind die Vampire Catherine Deneuve und David Bowie?«
»Ich glaube schon.«
»Dann ist es ein Stück von Schubert. Ich glaube, es ist das Trio in Es-Dur.«
»Ah ja. Danke für den Hinweis.«
Mit diesen Worten erhob er sich, als hätte er es auf ein mal sehr eilig. Er legte ein Geldstück auf den Tisch und lüftete zum Gruß leicht den Hut.
»Valdemar verabschiedet sich«, sagte er.
Und dann war er, ohne dass ich die Gelegenheit gehabt hätte, mich ebenfalls vorzustellen, mit seinem Manuskript unter dem Arm so schnell verschwunden, wie er gekommen war.
VENEZIANISCHES GONDELLIED
Ich trank meinen Vermouth aus und blieb etwas benommen sitzen, bis der eisige Wind mich zum Aufbruch trieb.
Plötzlich hatte ich die schmachtenden Akkorde Schuberts im Ohr und verspürte den dringenden Wunsch, dieses Stück zu hören. Ich schaute auf die Uhr. Wenn ich mich beeilte, würde ich es noch in den Musikladen schaffen, bevor er schloss. Schon über ein Jahr war ich nicht mehr in dem kleinen Plattenladen in der Carrer Tallers gewesen, der auf klassische Musik spezialisiert war. Wenn diese Schubert-CD irgendwo zu finden war, dann dort.
Statt den Umweg über die Ampel zu machen über querte ich die Carrer Pelai gewagterweise genau vor dem Café und kürzte über die Carrer Jovellanos ab. Dann bog ich links ein und erreichte das Geschäft fünf Minuten vor Ladenschluss.
Neben einem schläfrigen Kassierer empfing mich dort eine herrliche Melodie, die ich seit Jahren nicht gehört hatte: Es war eins der »Lieder ohne Worte« von Mendelssohn, das Venezianische Gondellied . Es ist ein Stück für Klavier, wie das von Schubert, und unglaublich poetisch.
Ich beschloss, das Trio von Schubert auf später zu verschieben, und bewegte mich mit halb geschlossenen Augen vom Regal mit den zeitgenössischen Komponisten hinüber zu den Romantikern. Bevor ich nach der CD suchte, wartete ich ab, bis die letzten Takte des Gondellieds verklungen waren. Als ich meine Augen wieder öffnete, konnte ich nicht glauben, was ich sah. Mein Herz machte einen derart heftigen Satz, dass ich unwillkürlich ein paar Schritte nach hinten stolperte. Auf der anderen Seite des Regals stand Gabriela.
Uns trennten nur wenige Zentimeter – ich konnte so gar den Duft ihrer schwarzen Locken riechen –, aber sie hatte mich nicht gesehen. Sie hatte die Augen zusammengekniffen und sah flink ein Regal durch.
Ich widerstand dem panischen Impuls, auf der Stelle zu flüchten, holte tief Luft und wartete darauf, dass Gabriela aufschauen würde.
Und dann hob sie den Blick, mein Herz begann zu dröhnen wie eine Kriegstrommel, und einen kurzen Moment lang konnte ich die Anordnung der Sommersprossen auf ihren Wangen bewundern. Sie warf mir einen fragenden Blick zu.
Mein Einstieg war nicht gerade brillant: »Hallo.«
Die
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