Sancha ... : Das Tor der Myrrhe : Historischer Roman (German Edition)
aufgeschlagene Heilige Schrift gebeugt, kaute an seinem linken Daumennagel, der schon ganz abgebissen war. Endlich hatte er wieder Zeit gefunden, sich um das Rätsel zu kümmern. Seine Hoffnung, dass die einundzwanzig Wörter, die der Spruch auf dem Steinernen Buch ergab, auf das einundzwanzigste Kapitel der Apokalypse hindeuteten, hatte sich insofern erfüllt, als es dort tatsächlich um das himmlische Jerusalem ging - was allerdings nach Meinung des dicken Marcellus - „der Herr sei seiner Seele gnädig“, flüsterte Damian - nur symbolisch zu verstehen war.
Doch da gab es eine weitere verdächtige Stelle:
Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron, die sprach: Siehe da, das Zelt Gottes bei den Menschen!
Das Zelt Gottes bei den Menschen? Ein heiliger Ort. Das musste etwas zu bedeuten haben. Es musste! Ein Zelt besaß zwangsläufig auch einen Eingang. Ein Tor?
„Doch wo, beim bärtigen Ganymed“, stöhnte Damian leise, „wo soll ich dieses Zelt oder eine entsprechende Behausung suchen?“
Draußen summte es wie in einem Bienenstock. Damian stand auf und trat ans Fenster. Toulouse war schwarz von Menschen. Kein Wunder, sollte doch heute Abend die Volksversammlung stattfinden. Olivier, der noch immer mit dem Großen Bogen übte, hatte versprochen, ihn abzuholen. Erstmals würden sie als Knappen an der Seite des jungen Grafen stehen. Es ging um das Bündnis mit Aragón, das endlich geschlossen war.
Er schlüpfte in die gelben Beinkleider und zog das rote Wams aus Samt über den Kopf, das das Wappenkreuz von Toulouse zierte. Rasch wusch er sich Gesicht und Hände, kämmte sich die Haare, gürtete sich und legte das kurze Schwert bereit. Als er fertig war, setzte er sich noch einmal hin und las zum vielleicht hundertsten Mal, wie er meinte, das 21. Kapitel:
Und er führte mich hin im Geist auf einen großen und hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem herniederfahren aus dem Himmel von Gott, die hatte die Herrlichkeit Gottes. Und ihr Licht war gleich dem alleredelsten Stein, einem Jaspis, klar wie Kristall. Und sie hatte eine große und hohe Mauer und hatte zwölf Tore und auf den Toren zwölf Engel und Namen darauf geschrieben, nämlich der zwölf Geschlechter der Kinder Israel: Von Morgen drei Tore ... von Abend drei Tore ...
Tore! Immer wieder diese Tore. Zwölf Tore. Drei Tore und nochmals drei Tore. Er war gewiss auf der richtigen Fährte, doch wo befand sich das Tor der Myrrhe?
Der Kopf schwirrte ihm und er schlug sich mehrmals ungeduldig mit der flachen Hand auf die Stirn. Irgendwo tief drinnen steckte die Lösung. Er wusste es. Er musste nur Ordnung schaffen ...
„Ein Berg, ein hoher Berg“, flüsterte er, „so steht es geschrieben.“ Wie kam es, dass er dabei immer nur den Bugarach vor Augen hatte, auf den einmal im Jahr die Mönche von Saint-Polycarpe gestiegen waren, um die Myrrhenäste zu verbrennen. Bestand hier ein Zusammenhang, zumal die Bäume im Biblischen Garten vom Urgroßvater Wilhelm stammten? Und wenn Wilhelm sie aus dem Heiligen Land mitgebracht hatte, konnte sich sehr wohl auch das Zelt Gottes – das Tor – in der Nähe des Klosters befinden.
Damian stürzte zum Gießfass hinüber und trank mit gierigen Zügen. Das Wasser war warm. Es war ihm gleich. Er spürte, er war ganz nah dran an der Lösung ...
Das Kloster ... Aber es war doch bestimmt von Montforts Männern gründlich auf den Kopf gestellt worden!
Noch einmal überflog Damian die Zeilen:
Und die zwölf Tore waren zwölf Perlen ...
Perlen. Da war die große graue Perle, nach der Doña Agnès verlangt hatte. Wie das Goldene Rad stammte sie angeblich aus dem Schatz Salomos. Mit Hilfe des Herrn von Miraval hatte Gräfin Sancha herausgefunden, dass der wirre Satz vom „Königreich des Vaters“, den die Großmutter vor ihrem Tod von sich gab, in einem verbotenen Evangelium stand, das wiederum die Katharer für ihre Lehre heranzogen. Es handelte sich um das Thomas-Evangelium, angeblich geheime Jesu-Worte.
Damian zog das Pergament hervor, das ihm Miraval heimlich zugesteckt hatte, und las:
„Das Königreich des Vaters
ist mit einem Kaufmann zu vergleichen,
der Frachtgut hatte und eine Perle fand.
Dieser Kaufmann war klug
er veräußerte sein Frachtgut
und kaufte sich diese eine Perle.
Ach ihr, sucht einen Schatz,
der nicht verdirbt und der dort bleibt,
wo sich keine Motte nähert, ihn zu fressen,
und kein Wurm ihn zerstört.“
Ein Schatz, geschützt vor Motten und Würmern.
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