Sands, Lynsay - HG 128 - Doppelspiel aus Liebe
reisen. Jedenfalls hatte er das gesagt. Und heute Nacht, wenn er schlief, wollte sie seine Pistole sowie die Reisetaschen nehmen und sich gemeinsam mit Beth auf den Weg zu Ralphy machen.
„Wir werden heute noch einmal hier übernachten und dann am Morgen aufbrechen“, verkündete Radcliffe unvermittelt, womit er ihre Überlegungen bestätigte. Als sie daraufhin nur nickte, ließ er es dabei bewenden.
Jemand klopfte leise. Charlie schaute Radcliffe an, ging dann zur Tür und sah Beth davor stehen. Ihr besorgter Gesichtsausdruck verschwand, sobald sie ihre Schwester erblickte.
Charlie trat in den Flur hinaus und drängte Beth in deren Zimmer zurück.
„Die Frau des Gastwirts erzählte, ihr zwei würdet ein Zimmer teilen“, flüsterte Beth, während die beiden Schwestern eintraten.
„Es würde recht merkwürdig ausgesehen haben, wenn ich nicht damit einverstanden gewesen wäre.“
„Schon, doch …“
„Ich habe in voller Kleidung geschlafen“, versicherte Charlie rasch. „Und zwar auf den Leinentüchern.“
Beth nickte und biss sich auf die Lippe. „Was machen wir jetzt?“
„Radcliffe beabsichtigt, bis morgen hier zu bleiben. Wir beide werden genau wie gestern den Gasthof in der Nacht verlassen.“
„Doch nicht etwa wieder durch das Fenster?“ Beth verhehlte nicht, was sie davon hielt.
Charlie schüttelte den Kopf. „Nein, diesmal nehmen wir die Treppe.“
„Und wann?“
„Ich komme dich holen, sobald er eingeschlafen ist. Du solltest dich noch ein bisschen hinlegen. Es dürfte eine lange Nacht werden.“ Sie wartete, bis Beth zum Bett gegangen war, und schlüpfte wieder in den Korridor hinaus, gerade als Radcliffe aus dem Zimmer trat, welches sie geteilt hatten.
„Geht es ihr gut?“ erkundigte er sich besorgt. „Sie erschien mir ein wenig blass.“
Charlie winkte ab. „Sie hat nur nicht so gut geschlafen, weil ihr zu vieles durch den Kopf ging. Ich riet ihr, sich noch ein wenig hinzulegen.“
Radcliffe nickte und stieg, von Charlie dichtauf gefolgt, die Treppe hinunter. „Sie erinnert mich an meine Schwester“, sagte er übergangslos, womit er natürlich Charlies Neugierde weckte.
„Wie heißt sie?“
Eine Weile schwieg er mit finsterer Miene. „Mary“, antwortete er dann.
„Ist sie verheiratet?“
„Sie war es.“
„Wie bitte?“
„Ich nehme an, sie ist es noch immer, doch sie und ihr Gatte leben nicht mehr.“
Während Charlie ihm in den Schankraum folgte, schwieg sie. Nachdem sie an einem der Tische Platz genommen hatten, warf sie einen Blick auf sein Gesicht, das jetzt so hart wie Granit wirkte. Zweifellos setzte er diese Miene auf, um anzudeuten, dass weitere Fragen unerwünscht waren.
Bei dieser Erkenntnis entspannte sich Charlie zum ersten Mal. Ein Teil ihrer Unbehaglichkeit verflog, und ihre Beherrschung kehrte zurück.
Jetzt merkte sie überhaupt erst, dass sie ihre Beherrschung verloren hatte, seit der Mann ihr und Beth in den Stallungen begegnet war. Das war für sie ein eigenartiges und unangenehmes Gefühl gewesen, welches sich nun jedoch legte, nachdem sie erkannt hatte, dass Jeremy Radcliffe durchaus menschliche Seiten zeigte.
Zwischen ihr und Beth gab es einen merkwürdigen Unterschied. Sie glichen einander aufs Haar und hatten in den meisten Fällen auch den gleichen Geschmack, doch jede von ihnen verfügte im Umgang mit anderen Leuten über andere Talente. Beth konnte mit körperlichen Krankheiten gut umgehen. Sie brauchte einen Menschen nur anzusehen und wusste sofort, woran er körperlich litt und womit sie ihm helfen konnte.
Charlie dagegen vermochte die Beweggründe anderer Personen rein gefühlsmäßig zu durchschauen. Sie erkannte den Schmerz, den sie empfanden und über den sie sprechen wollten. Ebenso merkte sie, wenn jemand sein wahres Selbst verbarg.
Beispielsweise hatte sie Onkel Henry von Anfang an nicht gemocht, obwohl er sich scheinbar gütig und sanftmütig gezeigt hatte, als er nach dem Tod ihrer Eltern bei den Zwillingen aufgetaucht war. Beth hatte sich von seiner Fassade blenden lassen, bis er sein wahres Ich zeigte. Danach war sie furchtbar gekränkt gewesen, weil Charlies Einschätzung sich als richtig erwiesen hatte, was diese nicht im Geringsten verwunderte.
Nun lenkte Charlie diese Wahrnehmungskraft auf Lord Radcliffe und spürte, dass er zwar nie über seine Schwester und deren Tod sprach, es jedoch tun wollte.
„Wie kamen sie ums Leben?“ erkundigte sie sich wie nebenbei.
Radcliffes Miene verfinsterte sich. Einen
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