Nebenwirkungen (German Edition)
KAPITEL 1
Paris, La Défense
D as Risiko ist zu hoch«, flüsterte der Fremde in Roberts Ohr. Dr. Robert Barnard war Professor für Zoologie an der Universität von Cambridge in England und seit zwei Jahren emeritiert; im Unruhestand, wie er sich ausdrückte. Sein Rückzug aus dem aktiven Universitätsleben hatte es ihm endlich erlaubt, sich wichtigen aktuellen Themen zu widmen, für die er vorher zu seinem höchsten Bedauern kaum Zeit gefunden hatte.
In immer kürzeren Abständen berichtete die Fachpresse über Fortschritte und Durchbrüche auf dem weiten Gebiet der Biologie, der Wissenschaft vom Leben, seinem Spezialgebiet. Die Entwicklung der modernen biologischen Forschung hatte Robert in den letzten Jahren nur noch aus Kurzmeldungen und Zusammenfassungen verfolgen können. Er hasste diese Oberflächlichkeit. Er musste den Dingen auf den Grund gehen, und er tat dies in seinem Beruf konsequent bis zur Pedanterie. Nur so konnte er seine Welt verstehen. Für ihn war diese Reise an den Kongress über biologische Grundlagenforschung in Paris ein erster wichtiger Schritt, die neusten Spezialgebiete der Molekularbiologie und Genforschung besser kennen zu lernen.
»Wie bitte?«, fragte er und wandte sich verwundert dem Fremden zu, der neben ihm im großen Saal des Kongresshotels saß und ihn mit stechendem Blick musterte.
»Die Risiken dieser Technologie sind viel zu hoch. Ich weiß, wovon ich spreche, glauben Sie mir.« Der Fremde sprach mit französischem Akzent. Robert schätzte sein Alter auf etwas über dreißig Jahre, obwohl die gedrungene Gestalt, das lederne Gesicht und die nachlässige, altmodische Kleidung eine Schätzung schwierig machte.
»Sie meinen die synthetische Biologie?«, wollte Robert wissen.
Der wunderliche Fremde nickte nur und starrte wieder geradeaus zum Rednerpult. Robert beachtete ihn nicht weiter. Der Vortrag Jeremy Wyldes, einer weltweit anerkannten Kapazität auf diesem Fachgebiet, fesselte ihn zu sehr. Die Rede war von einem neuen Zeitalter der biologischen Forschung, insbesondere der Genetik. Bisher hatte man sich auf die Beobachtung, die Klassifizierung und die Analyse der Lebensformen und ihrer Erbmasse beschränkt. Wylde aber hatte als einer der ersten den Schritt gewagt, Gene und gar ganze Genome, also die gesamte Erbmasse einer einfachen Bakterienzelle künstlich aus chemischen Substanzen herzustellen.
Robert war klar, dass diese Forschungen den Übergang von der klassischen, analytischen zur synthetischen Biologie markierten. Der Mensch war nun in der Lage, Lebewesen nicht mehr nur zu beschreiben, sondern sie gewissermaßen neu zu schreiben. Es war gelungen, die Gene lebender Bakterienzellen durch diese synthetischen Gene zu ersetzen. Ähnliche, meist erfolglose, Versuche hatten Kollegen des Forschers schon früher durchgeführt. Wylde konnte jedoch an diesem Kongress mit einer Sensation aufwarten, die nicht nur in der Fachwelt wie eine Bombe einschlug. Zum ersten Mal war es seinem Team gelungen, die Bakterienzelle mit dem synthetischen Genom am Leben zu erhalten. Die Zelle begann kurz nach dem Austausch der Erbsubstanz neuartige Eiweiße, Proteine, zu produzieren. Damit hatte Wyldes Team zwar noch kein künstliches Leben erschaffen, wohl aber eine völlig neue, in der Natur nicht vorkommende Lebensform.
Wyldes Ankündigung löste spontanen Applaus aus. Nüchterne Wissenschaftler vergaßen ihre vornehme Zurückhaltung, erhoben sich und spendeten ihrem Kollegen eine minutenlange stehende Ovation. Einzelne Zuhörer verließen den Raum unauffällig; Presseleute wohl, die diesen unerhörten Durchbruch unverzüglich ihren Redaktionen melden mussten. Es war nahezu unmöglich, sich dieser kollektiven Begeisterung zu entziehen. Robert empfand dennoch einen tiefen Zwiespalt zwischen erwartungsvoller Freude über berauschende neue Möglichkeiten und beklemmender Ungewissheit über noch unvorstellbare Risiken. Vielleicht hatte der Sonderling neben ihm doch etwas Wichtiges zu sagen, dachte er.
Wohl die meisten Gespräche am Mittagsbuffet und an den Tischen in der Hotellobby drehten sich um Wyldes Ankündigung und ihre Konsequenzen. Robert setzte sich mit seinem etwas überladenen Salatteller an einen noch leeren Tisch, da er bisher noch keinen Bekannten getroffen hatte – ein alarmierendes Zeichen, dass er den Anschluss an die Forschergemeinde zu verlieren begann.
»Verstehen Sie jetzt, was ich gemeint habe? Ach verzeihen Sie, ist hier noch ein Platz frei?«, fragte der
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