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Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas

Titel: Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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I
Lob & Preis
    Gute Nachrichten sind selten; deshalb empfiehlt es sich, mit ihnen anzufangen, auch wenn jeder ordentliche Reporter natürlich die schlechten bevorzugt.
    Das Wichtigste zuerst: Es gibt nur wenige Jahrzehnte in der Geschichte unseres Erdteils, in denen der Friede geherrscht hat. Zwischen den Staaten, die der Europäischen Union angehören, ist es seit 1945 zu keinem einzigen bewaffneten Konflikt mehr gekommen. Fast ein ganzes Menschenalter ohne Krieg! Das ist eine Anomalie, auf die dieser Kontinent stolz sein kann.
    Aber auch über eine Reihe von Annehmlichkeiten, bei denen es nicht um Leben oder Tod geht, können wir uns freuen. Sie sind inzwischen so selbstverständlich geworden, daß sie uns kaum noch auffallen. Personen, die jünger als sechzig sind, können sich nicht daran erinnern, wie mühsam es nach dem Zweiten Weltkrieg war, ein benachbartes Land zu betreten. Ohne einen langwierigen bürokratischen Kampf war an eine Auslandsreise nicht zu denken. Wer eine Grenze überschreiten wollte, hatte beglaubigte Einladungsschreiben vorzulegen, Visumanträge in dreifacher Ausfertigung auszufüllen, um Aufenthaltsgenehmigungen zu ersuchen, komplizierte Devisenbestimmungen und ein Dutzend anderer Hürden zu überwinden. Wollte man ein Buch aus dem Ausland beziehen, so war dazu eine umständliche Prozedur beim Hauptzollamt nötig. Erwartete man eine Überweisung aus Frankreich oder wollte man eine Rechnung in Spanien bezahlen, so kam dies einem Hoheitsakt gleich, der ohne eine Ansammlung von amtlichen Stempeln nicht vollzogen werden konnte. Heuteist das alles nur noch eine verblassende Erinnerung. Wer einen Paß der meisten Mitgliedsländer besitzt, kann wohnen, wo er will, ohne bei Ausländerbehörden Schlange zu stehen, um eine Aufenthaltsgenehmigung oder eine Arbeitserlaubnis zu erlangen. Es ist sogar, mit wenigen Ausnahmen, möglich geworden, ein elektrisches Gerät anzuschließen, ohne ein Arsenal von diversen Adaptern im Koffer mitzuführen. Auch viele Transaktionskosten sind in Europa, sehr zum Leidwesen der Wechselstuben, erheblich gesunken.
    Kurzum, der Prozeß der europäischen Einigung hat unseren Alltag zum Besseren verändert. Ökonomisch war er lange Zeit derart erfolgreich, daß bis heute alle möglichen und unmöglichen Beitrittskandidaten an seinen Pforten um Einlaß bitten.
    Ferner muß man es unseren Brüsseler Beschützern danken, daß sie nicht selten wacker vorgegangen sind gegen Kartelle, Oligopole, protektionistische Tricksereien und unerlaubte Subventionen. Die Telephontarife! Die kleingedruckten Vertragsklauseln, mit denen arglose Konsumenten getäuscht werden sollen! Der Schutz der Nichtraucher! Die Abzocke am Geldautomaten! Die Union wacht darüber, daß hier Klarheit geschaffen wird.
    Eine mühselige Arbeit, die sich nicht von selbst versteht. Denn die nationalen Regierungen haben sich immer wieder gern von den weltweit agierenden Riesen der Pharma-, Energie-, Finanz-, Lebensmittel- und Kommunikationsbranche über den Tisch ziehen lassen. Das sind Gegner, die über enorme Geldmittel verfügen. Sie kämpfen mit harten Bandagen um ihre Monopolgewinne, drohen mit dem Verlust von Arbeitsplätzen und haben es in der Kunst der Steuerflucht zum Virtuosentum gebracht. Kein einzelnes Land ist heute mehr in der Lage, ihnen die Stirn zu bieten, ihren Erpressungsversuchen zu widerstehen und sie gelegentlich sogar zu bestrafen.
    Auch um andere Probleme, die nur gemeinsam zu lösen sind, hat sich die Europäische Union verdient gemacht. Seit Jahren versucht sie, ohne durchschlagenden Erfolg, dem lächerlichen Flickwerk ein Ende zu machen, das die Kontrolle des europäischen Luftraums zu einem gefährlichen Geduldspiel macht. Die sechsunddreißig verschiedenen Einrichtungen, die ihn überwachen, jede von ihnen mit anderen Verfahren und Techniken, werden jedoch bis heute von den militärischen und zivilen Instanzen der Mitgliedsländer mit rattenhafter Zähigkeit gegen jeden Vorschlag zur Bereinigung verteidigt. Diese Form der Flugsicherung kostet nicht nur über drei Milliarden Euro im Jahr, sie verschlingt auch Unmengen an Treibstoff und führt zu endlosen Staus und Verspätungen.
    Fatale Folgen hat auch der ewige Streit um die Fischfangquoten und die stets auf die lange Bank geschobene Endlagerung der radioaktiven Abfälle – alles Probleme, die keiner der Mitgliedsstaaten, für sich allein genommen, offenbar lösen kann oder will. Die Union hat aber auch noch ganz andere Vorteile zu

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