Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas
sich vielmehr um eine durchaus beabsichtigte Grundsatzentscheidung. Als hätte es die Verfassungskämpfe des 19. und 2o. Jahrhunderts nie gegeben, haben sich Ministerrat und Kommission schon bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft darauf geeinigt, daß die Bevölkerung bei ihren Beschlüssen nichts mitzureden hat. Daß dieser Rückfall in vorkonstitutionelle Zustände durch kosmetische Korrekturen zu heilen wäre, glaubt inzwischen niemand mehr. Jenes Defizit ist also nichts weiter als ein vornehmer Ausdruck für die politische Entmündigung der Bürger.
Damit befinden sich die Akteure in einer äußerst komfortablen Situation. Anders als in einem klassischen Rechtsstaat gibt es im Regime der Europäischen Union keine richtige Gewaltenteilung; wie Menasse richtig feststellt, hat die Kommission praktisch ein Monopol für die Gesetzesinitiative. Sie verhandelt und entwirft ihre Richtlinien hinter geschlossenen Türen. Daß die Lobbyisten, die in Brüssel tätig sind, mehr Einfluß auf die Entscheidungen der Kommission haben als alle Abgeordneten, kann man vermuten, aber nicht beweisen.
Das Europa-Parlament kann nur in Übereinstimmung mit dem Europäischen Rat über das Budget entscheiden. Ein einziger Ratsvertreter kann die Haushaltsbeschlüsse des Parlaments blockieren. Die klassische Regel » No taxation without representation « ist damit außer Kraft gesetzt. Zum ersten Mal ist das Haus im Jahre 1979 direkt gewählt worden. Seitdem ist die Wahlbeteiligung kontinuierlich zurückgegangen; zuletzt lag sie bei 43 %. Die Rätselfrage, woran das wohl liegen mag, wird gelegentlich aufgeworfen. Sollten etwa die Verfahrensregeln daran schuld sein? Das Prinzip der degressiven Proportionalität? Die Sitzverteilung nach dem Sainte-Lagüe-, dem d’Hondt-, dem Hare-Niemeyer-Verfahren mit abgerundeter Hare-Quote oder ohne sie?Das Quotenverfahren mit Droop-Quote, oder ganz einfach das Präferenzwahlsystem?
Es fällt schwer, das zu glauben. Näher liegt die Vermutung, daß kaum jemand die diversen Parteigruppierungen kennt, die in diesem Parlament sitzen. Sie verbergen sich, ganz im Brüsseler Stil, unter Akronymen wie AECR , ECPM , EDP , EFA , EGP , EL , ELDR , EUD , EVP oder SPE , die kaum ein Wähler entziffern kann.
Man hat nicht den Eindruck, daß die Wahlmüdigkeit der Unionsbürger die Verantwortlichen bekümmert. Ungerührt sehen sie dem Schwinden ihrer Legitimationsgrundlage zu. Die Vermutung ist nicht weit hergeholt, daß ihnen das sogar ins Konzept paßt; denn für jede machtbewußte Exekutive ist die Passivität der Bürger ein paradiesischer Zustand. Auch die beteiligten nationalen Regierungen haben daran wenig auszusetzen. Zu Hause behaupten sie achselzuckend, gegen die Brüsseler Beschlüsse hätten sie sich leider nicht durchsetzen können. Umgekehrt kann sich die Kommission darauf berufen, daß sie nur den Absichten der Mitgliedstaaten folgt. Auf diese Weise ist am Ende niemand mehr für die Ergebnisse haftbar zu machen.
Was aus diesem Verfahren resultiert, ist zu dem sogenannten Acquis communautaire geronnen, einer monströsen Normensammlung, die kein Mensch je gelesen hat. Anno 2004 umfaßte sie bereits 85 000 Seiten; heute werden es weit über 150 000 sein. Bereits 2005 wog das Amtsblatt der Union insgesamt mehr als eine Tonne, soviel wie ein junges Nashorn. Die französische Fassung hat es unlängst auf 62 Millionen Worte gebracht. Der Acquis ist für alle Mitgliedsländer rechtsverbindlich. Man schätzt, daß über 80 % aller Gesetze nicht mehr von den Parlamenten, sondern von den Brüsseler Behörden beschlossen werden. Genau weiß das niemand. Strenggenommen handelt es sich dabei nicht, wie im klassischen Rechtsstaat, um Gesetze, sondern um Direktiven, Richtlinien und Vorschriften. Das entspricht durchaus dem autoritären Duktus, den die Brüsseler Behörden bevorzugen.
(Wer mit diesen Hinweisen nicht zufrieden ist und sich genauer über die juristische Seite der Europäischen Union kundig machen will, der sollte sich an EUR -Lex wenden, eine Datenbank, in der kostenlos und unverbindlich sämtliche Rechtsvorschriften der EU eingesehen werden können. Es handelt sich dabei um eine Sammlung von rund 1 400 000 Dokumenten. Wenn schon von den Unkosten dieses Regelwerks die Rede sein soll, so fallen dabei die Bezüge und Pensionen, über die sich die Medien gern erregen, am allerwenigsten ins Gewicht. Denn was das betrifft, hat schon vor geraumer Zeit ein damaliger Kommissar namens Verheugen
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