Sanftes Monster Bruessel oder die Entmuendigung Europas
gezwungen, Staatsanleihen der überschuldeten Länder aufzukaufen, die weit weniger wert sind, als sie kosten. Mit diesen riskanten Schrottpapieren bläht sich die Bilanz der Notenbank auf. Wenn der Augenblick der Wahrheit kommt, müssen die Mitgliedsländer Kapital in die EZB nachschießen.
Ein zweiter Vorschlag geht noch erheblich weiter. Unter Berufung auf die »Solidarität«, einen Slogan, der auch schon bessere Tage gesehen hat, möchte der Präsident der Euro-Gruppe Anleihen auf den Markt bringen, sogenannte Euro-Bonds, mit denen 60 % des Finanzbedarfs der schwächeren Mitglieder gedeckt werden sollen. Wie so oft wird auch in diesem Fall die Solidarität als Einbahnstraße verstanden. Niemand möchte daran erinnert werden, daß der Begriff sich von solidus herleitet, einem Wort, das einst soviel wie »haltbar, zuverlässig, gut fundiert« bedeutet hat. (So hieß übrigens auch eine sehr wertvolle römische Goldmünze, die Kaiser Konstantin im vierten Jahrhundert eingeführt hat; in Frankreich ist diese Bezeichnung zum Sou heruntergekommen.)
Wenn Jean Monnet noch unter den Lebenden wäre, so würde er gewiß nicht ohne Wehmut auf die Zeiten der Montanunion zurückblicken. Damals dachte niemand daran, zwischen einer »realen« und einer irrealen (nämlich der Finanz-)Wirtschaft, zu unterscheiden. Seinerzeit ging es um Eisen und Kohle, Produkte, an deren Gebrauchswert niemand zweifelte. Die Gründer der ersten europäischen Union konzentrierten sich auf die Probleme der Schwerindustrie. Von einem Gespenst, das heute nicht nur Europa, sondern den ganzen Planeten heimsucht, konnten sie noch nichts ahnen. Es ist der global operierende Kapitalmarkt, der ihren Visionen den Garaus zu machen droht. Wie eine Schar von panischen Hühnern treibt er die hilflosen Politiker der Union vor sich her. Daran haben auch weitere Abkürzungen nichts ändern können, zum Beispiel das CEBS in London, eine Art Bankenaufsicht, die seit Anfang 2011 durch die EBA ersetzt worden ist, von der Pariser ESMA und dem Frankfurter ESRB und der ebendort ansässigen EIOPA gar nicht zu reden.
Die sogenannten Finanzdienstleister verdienen ihr Geld bekanntlich mit »Produkten«, die weitaus toxischer sind als die Emissionen, die bis vor wenigen Jahrzehnten aus den Schornsteinen der Ruhr, der Wallonie und der Saar kamen. Sie zu kontrollieren erweist sich als wesentlich schwieriger als die Idealgestalt von Gurken, Traktorensitzen und Kloschüsseln.
Der Geister, die sie rief, kann die Union nicht mehr Herr werden. Instrumente, wie sie seit eh und je bei einer Insolvenz gebräuchlich waren, und zwar auch dann, wenn ein Staatsbankrott droht, wie bei den Schuldenkrisen nach dem Zweiten Weltkrieg: Moratorium, Umschuldung, Forderungsverzicht, können nicht einmal ernsthaft erwogen werden, weil sie die Märkte »beunruhigen« und den deutschen, britischen, französischen und belgischen Gläubigerbanken schaden könnten. Wer als »systemrelevant« gilt, braucht sich also keine Sorgen zu machen.
Schuld an der Misere ist, wenn man den Politikern Glauben schenkt, ganz allein die Spekulation. Von dieser unerfreulichen Erscheinung sprechen sie wie von einem Spuk, der schwer zu erklären und noch schwerer zu verscheuchen ist. Dabei gehört sie zur Geschäftsgrundlage des Kapitalismus. Die Spekulanten testen den Markt auf seine Schwachstellen; sie reagieren auf die Zunahme der politisch verursachten Staatsverschuldung; sie schätzen die ökonomischen Ungleichgewichte ab, die aus der Fehlkonstruktion der Wirtschafts- und Währungsunion folgen; und sie analysieren die Fliehkräfte, die das erzeugt. Daß ihr Vorgehen das Euro-System bedroht, wissen sie. Aber wer, wie die besten Adressen der Finanzindustrie, dessen Dilemma zu nutzen weiß, kann mit hohen und risikolosen Gewinnen rechnen.
Der Europäische Rat greift in seiner Not zu einer Losung, dieauch die nationalen Regierungen zu schätzen wissen: »Zu dem, was wir beschließen, gibt es keine Alternative.« Die Kapitalmärkte haben sich das nicht zweimal sagen lassen. Sie machen sich über die Politik lustig, indem sie diesen Slogan mit einem Akronym parodieren. Es heißt TINA und bedeutet: There is no alternative .
Nicht umsonst ist alternativlos in Deutschland zum »Unwort des Jahres 2010« gewählt worden. Dieser Begriff beleidigt die menschliche Vernunft, denn er kommt einem Denkverbot gleich. Er ist kein Argument, sondern eine Kapitulationserklärung. Wenn die Feldherren die Waffen strecken, sind es, wie
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