Engel der Verdammten (German Edition)
Prolog
Verlangen
Die Nacht erwachte. Eine herrliche Spätsommernacht, in der die feuchte Schwüle des Tages einem klaren Abend wich. Die Sonne war gerade hinter dem Horizont verschwunden und sandte nur noch ein letztes rosa Glühen aus, ehe auch dieses erlosch und der Mond seinen Platz am Himmel einnahm.
Peter von Borgo erhob sich aus seinem Sarg in einem verborgenen Keller seiner Blankeneser Villa. Sorgfältig strich er das schwarze Seidenhemd glatt und schnippte einen hellen Faden von seiner ebenfalls schwarzen Hose. Er beschleunigte seinen Schritt ein wenig, als er in der Halle den großen, mit einem Tuch verhängten Spiegel passierte. Er brauchte kein verspiegeltes Glas, um zu wissen, wie er aussah: genau wie jede Nacht seit Hunderten von Jahren. Von seinem schmal geschnittenen Gesicht mit unnatürlich weißer Haut hoben sich die dunklen Brauen und das schwarze, schulterlange Haar ab. Seine Nase konnte man durchaus als aristokratisch bezeichnen. Er war groß und sehnig gebaut und ganz sicher ein Mann, der ins Auge fiel und den man nicht so schnell wieder vergaß – wenn er dies wollte. Ja, er war attraktiv, ein Mann, nach dem sich die Frauen umwandten.
Nachdenklich blieb der Vampir in der Tür stehen und drehte an dem auffälligen Smaragdring an seiner linken Hand. Warum machte er sich heute bloß so viele Gedanken über sein Äußeres? War das nicht völlig unwichtig? Eine Nacht folgte der anderen in ewig gleichem Reigen.
Und doch war in dieser Nacht etwas anders. Er konnte die Spannung spüren, die ihn umgab. Vielleicht hätte sich sein Pulsschlag beschleunigt, wenn er noch ein lebendiges Herz in seiner Brust tragen würde.
Beschwingt machte er sich auf den Weg. Zwar wählte er einen Umweg über den Kanonenberg und zwang sich, am Fuß des Leuchtfeuers für einige Augenblicke den Ausblick über die Elbe zu genießen, doch dann zog es ihn zur Uferpromenade hinunter. Er merkte, wie er immer schneller lief, bis er über das duftende Gras zu fliegen schien. Nein!
Der Vampir hielt inne. Er befahl sich einen schlendernden Schritt und eine ausdruckslose Miene, die sein aufgewühltes Gefühl verbargen.
Peter von Borgo wunderte sich ein wenig über sich selbst. Darüber, dass ihn dieses Treffen so in Aufruhr versetzte. Er hatte gedacht, er habe schon alles erlebt und würde sich mit einer immerwährenden Langeweile arrangieren müssen. Schon seit Ewigkeiten hatte nichts mehr sein Blut in Wallung bringen können – außer vielleicht Sabine.
Aber an sie wollte er im Moment nicht denken. Es kam ihm unpassend vor. Er wusste, dass sie es nicht gutheißen würde. Doch welches Recht hatte sie, ihn zu maßregeln? War sie es nicht, die ihre Entscheidung immer wieder hinausschob? Das hier hatte nichts mit ihr zu tun und es ging sie nichts an. Nein, an diesem Abend wollte er nicht an Sabine denken, die ihm deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass sie in den kommenden Nächten ihren Schlaf brauchte.
Der Vampir richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf sein Ziel. Gleich würde die Bank hinter der Biegung auftauchen. Er ahnte, dass sie schon da war. Sie wartete auf ihn. Seine Schritte wurden immer langsamer, bis er sie endlich sah. Er blieb stehen und sog ihren Anblick in sich auf.
Das Mondlicht strich ihr schmeichelnd über das schwarze Haar, die zarte, milchige Haut, die vollen Lippen. Sie war noch jung, doch nicht unschuldig. Sie war entschlossen und mutig, sie war neugierig und bereit, jedes Abenteuer zu wagen. Sie war perfekt!
Der Abendwind trug ihm einen Hauch ihres Dufts zu, den er genussvoll in sich einsog. Eine wilde Freude wallte in ihm auf. Es würde eine herrliche Nacht werden. Etwas Besonderes.
Sie hob den Kopf und blickte in seine Richtung. Hatte sie ihn entdeckt? Konnte sie ihn sehen? Die freudige Erwartung trieb ihn an. Mit wenigen schnellen Schritten erreichte er die Bank, auf der sie sich niedergelassen hatte. Sie lächelte ein wenig schelmisch.
»Welch Überraschung! Herr von Borgo, wer hätte gedacht, Sie heute Nacht hier anzutreffen?«
Sie heuchelte ein so entzückend mädchenhaftes Erschrecken, dass er gar nicht anders konnte, als sich herabzubeugen und nach ihren Händen zu greifen. Er küsste sie zart. Sie lächelte und zog ihn neben sich auf die Bank.
»Was werden wir heute Nacht tun? Was wirst du mir zeigen?«
»Was möchtest du denn sehen?«, gab er die Frage zurück, während er sie mit seinem Blick liebkoste.
»Ich weiß nicht. Mit dir ist alles so anders. Du schenkst mir eine neue Welt
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