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Sansibar Oder Der Letzte Grund

Sansibar Oder Der Letzte Grund

Titel: Sansibar Oder Der Letzte Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Andersch
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liegt und der Wirt Anzeige macht. Wir werden alle geliefert sein, auch Knudsen, weil sie das Boot und den Jungen kennen; wenn Knudsen vergeblich auf uns wartet, weil sie uns jetzt erwischen, dann kann er nur zusehen, daß er nach drüben kommt; wenn er schlau ist und die Lage erfaßt, bleibt er drüben: vielleicht ist Knudsen der einzige, der aus dieser Scheiße herauskommt, dachte Gregor. Aber Knudsen ist nicht schlau; Knudsen ist stur.
    Obwohl sie mit dem Rücken zur Fahrrinne saß, konnte Judith auf einmal den Strahl des Scheinwerfers sehen. Er lag in einiger Entfernung links von ihrem gegen den Sturm ankämpfenden Boot auf dem Wasser. Judith erfaßte nicht sogleich, was diese Tatsache zu bedeuten hatte, aber sie konnte sehen, daß Gregor und der Junge voller Schrecken ihre Köpfe nach ihm wendeten. Der Junge schrie »Weiterrudern!«, sie duckten sich tiefer in die Bewegung der Ruder, aber sie hielten ihre Gesichter auf den Zeiger des Lichtes gerichtet, der nun zu wandern begann. Er ruckte erst ein wenig weiter nach links, von ihnen weg, erfaßte ein Stück Land an der Südseite des Haffs, aber dann bewegte er sich langsam nach rechts. Er verlor das nach Westen ausweichende Land aus seiner Reichweite, es verschwand für Judiths Blicke, weil der weiße, sich nähernde Lichtstrahl alles um sich herum dunkel machte. Er näherte sich unerträglich langsam, die Sekunden, in denen er über die Uhr aus Wasser und Zeit kroch, reichten aus, um das Rudern der Männer und Judiths Blick in Lähmung zu verwandeln, sie hörten das stoßende Gebrüll des Windes nicht mehr. Er war wie ein Blick - starr, grell und hypnotisierend ruhte er auf den erregten Wellen, die sich unter ihm wanden wie unter einem Peitschenschlag. Judith zog ihre Lippen im Vorgefühl eines Schreis nach innen, ihre Hand klammerte sich um das Holz der Ruderpinne, als er so nahe war, daß sie die sich überstürzenden Tropfen im Inneren der Wellen unterscheiden konnte; zehn Meter entfernt, enthüllte er die Struktur des Sturms mit dem kalten, weißen Degenstoß eines Blitzschlags.
    Und dann erlosch er. Sie befanden sich in der Schwärze, die ihm folgte, wie im Inneren eines Donners. Die Männer ließen die Ruder fahren, und sofort begann das Boot zu kreiseln. Sie hatten Glück, weil im gleichen Augenblick der Wind aussetzte, aber sie spürten es alle drei nicht, sie waren taub für das Schweigen, weil sie das Gejohl des Windes sekundenlang nicht vernommen hatten. Der Junge war der erste, der das Boot mit ein paar Ruderschlägen wieder auffing. Er wies Judith an, auf dem bisherigen Kurs zu bleiben, aber er bewegte sein Ruderpaar nur noch mit kurzen Stößen, die gerade ausreichten, daß sie nicht abgetrieben wurden, und Gregor machte es ihm nach. Ohne ein Wort zu wechseln, warteten sie auf das Wiedererscheinen des Lichtstrahls, und wirklich leuchtete er nach einer Minute wieder auf, aber da war er schon weit rechts von ihrem Boot, er schwenkte weiter nach rechts, nach Norden, tastete den Strand der Lotseninsel ab und blieb dann auf der Fahrrinne, weit draußen im Haff, liegen. Aus irgendeinem Grund hatte irgend jemand auf dem Zollboot den Scheinwerfer für eine Minute abgeschaltet, es gibt also etwas, was man Zufall nennen kann, dachte Gregor, obwohl es nach dem Dogma der Partei keinen Zufall gibt - auch Willensfreiheit gibt es in ihm nicht, dachte er -, hinter dem transparenten Schein eines Zufalls steht die undurchdringliche Wand von Naturgesetzen, man hat für jeden Zufall die Gründe zu suchen, die ihn zu einer Notwendigkeit machen, also hinter dem Abschalten eines Scheinwerfers die Gründe, die einen Zollpolizisten bewegen, ihn in genau jenem Moment zu unterbrechen, der genügt, eine Flucht zu retten, so daß auch die Rettung dem Kausalitätsgesetz gehorcht, der Kausalität der Natur, wie die Partei sie lehrt, oder der Kausalität Gottes, wie die Kirche sie lehrt, aber die Kausalität der Kirche erschien Gregor in diesem Augenblick, während sie dem sich entfernenden Polizeiboot nachblickten, annehmbarer als die der Partei, weil sie, wenn sie schon alles auf den Willen Gottes zurückführte, wenigstens diesem die Freiheit ließ, seine Zufälle dort zu wirken, wo sie ihm gerade angebracht erschienen. Judith schien etwas Ähnliches zu überlegen, denn er hörte, wie sie auf einmal ganz laut das Wort »danke« sagte.
    Als das Polizeiboot, am Leuchtturm vorbei, hinter der Spitze der Lotseninsel verschwunden war, sagte der Junge, sie könnten es nun riskieren,

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