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Sansibar Oder Der Letzte Grund

Sansibar Oder Der Letzte Grund

Titel: Sansibar Oder Der Letzte Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Andersch
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gradaus auf die Insel zu?
    Das ist wegen dem Zollboot, erwiderte der Junge. Wenn wir weiter ‘rausgehen, kommen wir in die Nähe der Fahrrinne, erklärte er, und je näher wir an die Fahrrinne ‘rankommen, desto leichter kriegen sie uns mit ihrem Scheinwerfer.
    Woher weißt du denn, daß wir nicht gesehen werden sollen? fragte Gregor. Der Schiffer hat gesagt, ich soll Sie möglichst unbemerkt ‘rüberbringen, antwortete der Junge.
    Judiths Augen hingen an dem Strahl des Leuchtfeuers, sie folgte ihm unablässig mit ihren Blicken. Der Mond war untergegangen, und der Turm war das einzige Ding, das Licht spendete in einer Nacht, in der kaum mehr zu erkennen war als die Grenzen von Wasser, Erde und Himmel, zwei bewegte Körper, ringsum getrennt von einem unbewegten, der am schwärzesten war. Denn der Himmel war von der Bewegung der Wolken erfüllt, die manchmal von irgendeinem Widerschein des untergegangenen Lichtes beleuchtet waren, flatternde Fahnenfetzen, nach Osten jagend; und das Wasser, aufgewühlt von den Böen, zeichnete feine Linien aus Schaumweiß auf die Kämme der rasch in sich zusammenstürzenden Wellen, die an ihren Innenseiten bleich phosphoreszierten. Judith klammerte sich mit ihren Augen an den Leuchtturm, um nicht den Himmel und das Wasser sehen zu müssen, und während sie den Befehlen des Jungen mechanisch gehorchte, dachte sie: es ist kalt, es ist schrecklich kalt, und diese Nacht ist etwas Unausdenkbares, ich bin in etwas Unausdenkbares geraten. Manchmal erinnerte sie sich daran, daß sie hatte fliehen wollen, aber Flucht war für sie ein Wort gewesen, keine Wirklichkeit, sie war in die Wirbel der Wirklichkeit geraten, und sie entdeckte nun, daß es wirkliche Wirbel waren, die sie in eine Tiefe rissen, aus der es kein Entrinnen gab.
    Gregor spürte die Kälte nicht, denn er ruderte nun mechanisch und verbissen, aber er beobachtete die Wellen, die von der Landseite aus heranjagten und den Jungen zwangen, das Boot immer öfter nach rechts wenden zu lassen, auf das offene Haff hinaus, damit die Böen, wenigstens die schlimmsten, das Boot nicht an der Breitseite trafen. Immerhin ruderten sie so mit dem Wind und kamen rasch vorwärts. Von Zeit zu Zeit setzten die Böen aus, dann rief der Junge »Backbord«, und Gregor nahm wahr, daß das Mädchen das Kommando verstand und das Steuer nach links legte.
    Gregor wurde sich mit einem Male bewußt, daß er das Mädchen ununterbrochen anstarrte. Er saß Judith gegenüber, in seiner Ruderbewegung und in der Bewegung des Bootes hob sie sich vor ihm hoch und senkte sie sich nieder, während er die Haltung seines Kopfes nicht zu verändern brauchte, um sie im Blick zu behalten. Sie hatte die eine Hand am Ruder, während sie mit der anderen ihre Handtasche festhielt, - Gregor konnte die Spiegelung des Leuchtfeuers in ihren Augen wahrnehmen: sie glänzten auf und erloschen. Sie friert, dachte Gregor, sie hat sich ganz in ihren Mantel verkrochen. Dann dachte er an den Kuß, an den nicht gegebenen und nicht erwiderten Kuß, und auf einmal überfiel ihn der Gedanke, daß es ein sehr schöner, ein vielleicht hinreißender und alles verändernder Kuß hätte sein können, ein Kuß, wie er seit Jahren nicht mehr in seinem Leben vorgekommen war. Ich habe etwas versäumt, dachte er, ich habe falsch gedacht, und in Wirklichkeit habe ich mich vor diesem Kuß gefürchtet. Er bemerkte, daß Judith ihren Kopf ganz leicht wendete und ihn ansah, er war versucht, seinen Blick zu senken, aber in der gleichen Sekunde bezwang er das Gefühl, von dem er nun wußte, daß es Furcht war, und sie sahen sich an, noch immer spiegelte sich das Leuchtfeuer in ihren Augen, es glänzte auf und erlosch, ich kann die Farbe seiner Augen nicht erkennen, dachte Judith, ich stelle mir vor, daß sie grau sind, vielleicht von etwas hellerem Grau als sein Anzug, ich möchte ihn gern einmal bei Tag sehen, ich kenne nicht einmal seinen Namen, und Gregor fragte: Wie heißen Sie eigentlich?
    Levin, sagte Judith, Judith Levin. Und Sie?
    Grigorij, sagte er lachend.
    Grigorij? fragte sie. Das ist ein russischer Name.
    Ich komme aus Rußland, sagte Gregor.
    Sind Sie ein Russe?
    Nein. Ich bin ein Niemand, der aus Rußland ins Niemandsland geht.
    Ich verstehe Sie nicht, sagte Judith.
    Ich verstehe mich selber nicht, sagte Gregor. Ich habe einen falschen Paß und keinen Paß und keinen Namen, ich bin ein Revolutionär, aber ich glaube an nichts, ich habe Sie beschimpft, aber ich bedaure, Sie nicht geküßt zu

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