Sara Linton 01 - Tote Augen
war, um überhaupt sprechen zu können.
Allerdings, das musste Judith sich eingestehen, war sie in diesen frühen Jahren selbst eine in gewisser Weise typische Frau gewesen. Es war zwar peinlich, das zuzugeben, aber Judith war aufs College gegangen, nur um einen Ehemann zu finden. Sie war in der Nähe von Scranton, Pennsylvania, aufgewachsen, einem so winzigen Dorf, dass es nicht einmal auf der Landkarte verzeichnet war. Die einzig verfügbaren Männer dort waren Farmer, und die waren an Judith kaum interessiert. Judith konnte es ihnen nicht verdenken. Der Spiegel log nicht. Sie war ein bisschen zu mollig, die Zähne standen ein bisschen zu weit vor, sie war ein bisschen zu viel von allem anderen, um zu den Mädchen zu gehören, die man in Scranton zur Ehefrau nahm. Und da war dann noch ihr Vater, ein strenger Zuchtmeister, den sich kein vernünftiger Mann als Schwiegervater wünschen würde, und auf jeden Fall nicht im Gegenzug für ein birnenförmiges Mädchen mit vorstehenden Zähnen, das kein Talent für die Farmarbeit hatte.
Tatsächlich war Judith immer die Ausnahme in der Familie gewesen, diejenige, die nicht recht dazupasste. Sie las zu viel. Sie hasste die Farmarbeit. Auch als junges Mädchen hatte sie sich nicht zu Tieren hingezogen gefühlt und wollte nicht verantwortlich sein für ihre Pflege und Fütterung. Keines von ihren Geschwistern war auf eine weiterführende Schule geschickt worden. Es gab zwei Brüder, die in der neunten Klasse die Schule verlassen hatten, und eine ältere Schwester, die ziemlich schnell geheiratet und sieben Monate später ihr erstes Kind geboren hatte. Wobei keiner sich die Mühe gemacht hatte, genauer nachzurechnen. Ihre Mutter, eine Meisterin der Verdrängung, hatte bis zu ihrem Tod behauptet, ihr Enkel sei schon als Kleinkind grobknochig gewesen. Zum Glück hatte Judiths Vater die Vorzeichen gesehen, was seine mittlere Tochter anging. Für sie würde es keine Vernunftehe mit einem der Jungs vom Dorf geben, nicht zuletzt deswegen, weil keiner von ihnen sie als vernünftige Partnerin betrachtete. Das Bibelcollege, entschied er, war nicht nur Judiths letzte, sondern ihre einzige Chance.
Mit sechs Jahren war Judith von einem Kieselstein am Auge getroffen worden, als sie hinter dem Traktor herrannte. Von diesem Augenblick an hatte sie immer eine Brille getragen. Wegen der Brille nahmen die Leute an, sie sei ein Kopfmensch, wobei das genaue Gegenteil der Fall war. Ja, sie las sehr gerne, doch ihre Vorliebe war eher der Groschenroman als die hohe Literatur. So war es überraschend – nein, eher schockierend –, dass an Judiths erstem Tag im College der Dozent ihr zuzwinkerte.
Erst hatte sie gedacht, er hätte etwas im Auge, doch Henry Coldfields Absichten wurden unmissverständlich, als er sie nach der Stunde beiseitenahm und sie fragte, ob sie mit ihm in den Drugstore gehen und eine Limonade trinken wolle. Das Zwinkern war offensichtlich Anfang und Ende seines Draufgängertums. Henry war ein sehr schüchterner Mensch; was merkwürdig war, wenn man bedachte, dass er später der Spitzenverkäufer eines Spirituosengroßhandels wurde – eine Arbeit, die er auch drei Jahre nach seiner Pensionierung noch verachtete.
Judith nahm an, Henry konnte sich deshalb so gut anpassen, weil er Sohn eines Colonels der Army gewesen war, sodass sie sehr oft umziehen mussten und nie mehr als ein paar Jahre an einem Ort blieben. Es gab keine leidenschaftliche Liebe auf den ersten Blick – die kam erst später. Anfangs hatte Judith Henry einfach nur attraktiv gefunden, weil er sie attraktiv fand. Das war etwas ganz Neues für die Birne aus Scranton, aber Judith hatte sich schon immer ans entgegengesetzte Extrem der Marx’schen Philosophie gehalten – die von Groucho, nicht von Karl: Sie war mehr als bereit, jedem Club beizutreten, der sie als Mitglied aufnehmen wollte.
Henry war ein Club für sich selbst. Er war weder attraktiv noch hässlich, weder vorlaut noch schweigsam. Die Haare trug er ordentlich gescheitelt, sein Akzent war flach, und so war durchschnittlich das Wort, das ihn am besten beschrieb und das Judith in einem späteren Brief an ihre Schwester auch verwendete. Rosas Antwort lautete in etwa so: » Na ja, ich schätze, das ist das Beste, was du dir erhoffen kannst.« Zu Rosas Verteidigung muss man sagen, dass sie zu der Zeit mit ihrem dritten Kind schwanger war, während ihr zweites noch in den Windeln steckte, dennoch hatte Judith ihrer Schwester diese Kränkung nie verziehen
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