Sara Linton 01 - Tote Augen
– eine Kränkung, die ihr nicht gegen sie, sondern gegen Henry gerichtet erschien. Wenn Rosa nicht erkannte, was für ein besonderer Mensch Henry war, dann nur, weil Judith sich nicht gut ausdrücken konnte; Henry war viel zu vielschichtig für schlichte Wörter auf einem Blatt Papier. Vielleicht war es für alle am besten so. Rosas sarkastische Bemerkung hatte Judith einen Grund gegeben, mit ihrer Familie zu brechen und sich diesem zwinkernd introvertierten, sprunghaften Fremden in die Arme zu werfen.
Henrys draufgängerische Schüchternheit war nur die erste von vielen Widersprüchlichkeiten, die Judith im Lauf der Jahre an ihrem Mann aufgefallen waren. Er hatte entsetzliche Höhenangst, hatte aber bereits als Teenager seinen Flugschein gemacht. Er verkaufte Alkohol, trank aber selbst nie. Er war ein häuslicher Mensch, verbrachte aber den größten Teil seines Erwachsenenlebens mit Reisen zuerst durch den Nordwesten, dann den Mittleren Westen, denn diverse Beförderungen führten ihn ebenso durchs ganze Land, wie die Army es getan hatte, als Henry noch ein Kind war. Sein Leben, so schien es, war dadurch definiert, dass er sich zwang, Dinge zu tun, die er nicht tun wollte. Und doch sagte er Judith oft, dass das Zusammensein mit ihr das Einzige sei, was er wirklich genieße.
Vierzig Jahre und so viele Überraschungen.
Zu ihrem großen Bedauern hatte Judith starke Zweifel, dass ihr Sohn für seine Lebensgefährtin ähnliche Überraschungen bereithalten würde. Als Tom heranwuchs, war Henry drei von vier Wochen unterwegs, und sein Vatersein kam in plötzlichen Ausbrüchen, die nicht unbedingt seine mitfühlende Seite betonten. Tom wurde folglich alles, was sein Vater ihm in diesen prägenden Jahren gezeigt hatte: streng, unbeugsam, getrieben.
Dazu kam allerdings noch etwas anderes: Judith wusste nicht, ob es damit zu tun hatte, dass Henry seine Arbeit als Pflicht seiner Familie gegenüber und nicht als seine Leidenschaft betrachtete, oder weil er es hasste, so viel von zu Hause weg zu sein, aber es sah so aus, als liege jeder Kommunikation, die er mit seinem Sohn hatte, eine latente Spannung zugrunde: Mach nicht dieselben Fehler, die ich gemacht habe. Verrate nicht deine Überzeugungen, nur um Essen auf den Tisch zu bringen. Der einzige positive Rat, den er seinem Sohn je gab, war, er solle eine gute Frau heiraten. Wenn er nur konkreter geworden wäre. Wenn er nur nicht so hart gewesen wäre.
Woran lag es, dass Väter mit ihren Söhnen immer so streng waren? Judith vermutete, sie wollten, dass ihre Söhne in Bereichen Erfolg hatten, wo es ihnen nicht gelungen war. Damals, am Anfang ihrer Schwangerschaft, hatte sich bei dem Gedanken an eine Tochter eine schnelle Wärme in Judiths Körper ausgebreitet, gefolgt von einer sengenden Kälte. Ein junges Mädchen wie Judith, draußen in der Welt, voller Trotz gegen ihre Mutter, voller Trotz gegen die Welt. Dadurch verstand sie Henrys Wunsch, dass Tom besser werden sollte und alles bekam, was er wollte, und noch mehr.
Im Beruf hatte Tom mit Sicherheit Erfolg, seine graue Maus von einer Frau war allerdings eine Enttäuschung. Sooft Judith ihrer Schwiegertochter gegenüberstand, drängte es sie, der Frau zu sagen, sie solle aufstehen, den Mund aufmachen und, um Gottes willen, Rückgrat zeigen. Eine der freiwilligen Helferinnen in der Kirche hatte letzte Woche gesagt, dass Männer immer ihre Mütter heirateten. Judith hatte der Frau nicht widersprochen, aber sie würde jedem raten, nur ja keine Vergleiche zwischen sich und der Frau ihres Sohns anzustellen. Abgesehen von der Sehnsucht nach ihren Enkeln, konnte Judith sich gut vorstellen, ihre Schwiegertochter nie mehr zu sehen und dennoch glücklich zu sein.
Die Enkel waren schließlich der einzige Grund, warum sie nach Atlanta gezogen waren. Sie und Henry hatten ihr Rentnerleben in Arizona völlig hinter sich gelassen und waren fast zweitausend Meilen hierher in diese heiße Stadt mit ihren Smogwarnungen und Bandenmorden gezogen, nur um in der Nähe der verzogensten und undankbarsten kleinen Wesen auf dieser Seite der Appalachen zu sein.
Judith warf einen flüchtigen Blick zu Henry hinüber, der beim Fahren aufs Lenkrad trommelte und unmelodisch summte. Über ihre Enkel sprachen sie nur voller Begeisterung, vielleicht weil sie, wenn sie ehrlich wären, zugeben müssten, dass sie sie nicht besonders mochten – und wo wären sie dann? Sie hatten ihr Leben völlig umgekrempelt für zwei kleine Kinder, die eine glutenfreie
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