Satans Erbe (German Edition)
ab. Währenddessen schob sich unaufhaltsam die Sonne über den Horizont, und als sich ein Streifen goldenes Licht seinen Weg durch die Fensterritzen stahl, erhob Chrétien sich stöhnend. Er glättete seinen Rock, klopfte sich den Staub von den Ärmeln und musste laut furzen, was er auf den Genuss eines Eichhörnchens mit reichlich Kohl am Vorabend zurückführte.
Schlurfend durchquerte er den engen Raum und ließ sich auf einem Schemel vor dem Schreibpult unter dem einzigen kleinen Fenster des Zimmers nieder. Er richtete den Blick auf sein noch nicht vollendetes Werk, das er Phillipe d’Alsace, dem Grafen von Flandern, gewidmet hatte. Der ausdrückliche Wunsch seines Hofherrn stand Pate für die Entstehung der Erzählung. Doch das furchtbare Geheimnis, das er in dem für seine Recherchen zur Verfügung gestellten Buch aus der Bibliothek des Grafen enthüllt hatte, ließ ihn innerlich verstummen.
Das Pergament! Seitdem fand er keine Worte mehr, den zweiten Teil seiner Geschichte um seinen Helden und den Heiligen Gral fortzuführen.
Chrétien schlug das Buch auf und betrachtete wie schon so oft den Einband. Er verfluchte den Abend, an dem ihm ein winziger Papierfetzen aufgefallen war, der aus dem Umschlag am Buchrücken herausragte. Das dünne Pergament, das er vorsichtig aus dem doppelten Einband gelöst hatte, hätte niemals gefunden werden dürfen.
Er griff das Schriftstück und verbarg es unter seinem Rock. Wie sollte er seine Schuld sühnen? Wie konnte er es verantworten, dass das Pergament in fremde Hände geraten war?
Jemand musste in seiner Abwesenheit die teuflische Überlieferung abgeschrieben haben. Der undurchsichtige Wicht von Hofschreiber, der erst seit Kurzem in den Diensten des Grafen stand, schien ihm am wahrscheinlichsten. Warum war er nur so unachtsam gewesen?
Die Herstellung seiner eigenen Tinte aus getrockneten Schlehenzweigen, die er im letzten Frühjahr geschnitten hatte, hatte ihn in den vergangenen Wochen beschäftigt. Daher war die Kammer, die sie sich teilten, häufig verlassen. Er wusste genau, dass er am Morgen zwei Pergamentsäckchen zerbröckelt und in Wein aufgelöst und damit sein Tintenfass aufgefüllt hatte. Mehrere Bogen frisches Pergament lagen auf dem Pult bereit.
Bei seiner Rückkehr hatte er das Fässchen fast leer vorgefunden. Auch schien es, dass zwei bis drei Bogen Pergament verschwunden waren.
Es war alles seine Schuld.
Hätte er bloß seine Neugierde unterdrückt oder es geschafft, seinen Fund zu vernichten. Aber er konnte es einfach nicht.
Nein, mit dieser Schmach wollte er nicht leben.
Gemächlich trottete er zu seiner Schlafstätte zurück und sackte nieder. Die bis an den Rand gefüllte Kanne Wein ließ er, ohne einen Becher zu benutzen, hastig die Kehle hinunterrinnen, bis er ein Kribbeln in den Gliedmaßen verspürte, wobei ihn gleichzeitig ein wohliges Gefühl der Müdigkeit überkam. Er griff sein Strohkissen, riss die Füllung heraus und verteilte sie dicht um das Licht neben seinem Bettkasten.
Als der beißende Rauch das Zimmer zu füllen begann, befand sich Chrétien tief und fest im Land der Träume, sein Holzkreuz auf der Brust eisern umklammert.
9.
Hamburg, Deutschland
1955
S onnenstrahlen stachen schräg durch graue Wolkenberge und ließen mich blinzeln. Ich setzte mich rittlings auf und ließ meine Beine von der hohen Mauer hinabbaumeln, hauchte in meine Hände und bemerkte, wie die Dämmerung hinter den Häusern und Ruinen einsetzte. Voller Vorfreude legte ich den Kopf in den Nacken und spähte an dem verwitterten Mauerwerk empor. Dies war meine Lieblingsstelle. Ich fühlte mich wohl zwischen den herumliegenden Trümmern, die noch aus dem Krieg stammten. Ich sah zum Kirchturm hinauf. Schade, dass der nicht auch eingekracht war, direkt auf des Pastors Stube. Ich grinste und starrte ungeniert in das Fenster. Wie jeden Donnerstag stellte die Tochter des Pfaffen ihm einen Teller mit einer dick mit Butter bestrichenen Rosinenstulle auf den Tisch, nicht, ohne vorab ein Küchentuch daruntergelegt zu haben.
Mir knurrte der Magen wie die lästigen Hunde, die mich nachts nicht schlafen ließen. Außerdem kroch mir die Kälte bereits bis in die Fingerspitzen. Endlich – der Zeiger der Standuhr ruckte auf den großen Strich vor der Zwölf.
Ich schwang ein Bein über die Mauer, drehte mich auf den Bauch und wollte mich wie immer erst hinabhängen lassen, um das letzte Stück zu springen, doch meine Finger waren so klamm, dass sie
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