Satans Erbe (German Edition)
ein Kopfschütteln verriet, dass sie ihr darauf keine Antwort geben konnte oder wollte. Sibylle durfte Elisa jetzt nicht überfordern. Enttäuschung breitete sich für einen Moment aus, die aber nicht währte. Elisa reagierte. Sie befand sich nicht mehr in ihrem Gefängnis, war ausgebrochen aus ihrer Apathie, die sie so lang in ihrem Inneren gebunden hatte.
Sibylle stand auf und kramte auf ihrem Schreibtisch herum, um ihren inneren Aufruhr zu verdrängen. Vor neun Jahren hatte sie den Entschluss gefasst, Elisa zu helfen. Dafür hatte sie ihre beruflichen Pläne über den Haufen geworfen und entschieden, sich zu bilden, wo es möglich war, um irgendwann hinter Elisas starre Fassade blicken zu können.
Nun war es so weit. Mehr denn je war sie überzeugt, dass Elisa unter Hospitalismus litt, einer Krankheit, unter der man sämtliche negativen körperlichen und seelischen Begleitfolgen unter anderem einer längeren Gefangenschaft verstand. Die Symptome konnten bei einer äußerlichen Besserung der Umstände sowie einer intensiven und liebevollen Zuwendung mit der Zeit zurückgehen. Aber auch totaler Mutismus war nicht auszuschließen. Ihre Diagnose beruhte auf der Tatsache, dass Elisa seit ihrem Auffinden nicht gesprochen hatte, obwohl keine Defekte der Sprachorgane vorlagen. Mutismus war eine sehr seltene und oft unbekannte Kommunikationsstörung, deren Ursachen auch Traumata sein konnten.
Sie beschloss, heute nicht weiter auf Elisa einzuwirken und das abendliche Ritual anstelle von Schwester Ulrike vorzunehmen. Sie führte Elisa in ihr Zimmer zurück, brachte sie ins Bad und legte, während sich Elisa frisch machte, ihren Schlafanzug zurecht.
»Gute Nacht, Elisa.«
Sie löschte alle Lampen bis auf das Notlicht. Bevor sie auf den Flur trat, vernahm sie ein geflüstertes »Dir auch«. Sie schloss die Tür lauter als nötig, um Elisa zu signalisieren, dass sie es gehört hatte. Im Gang bekam sie feuchte Augen und eilte mit verschwommenem Blick zurück in ihr Büro. Trotz der späten Stunde rief sie ihren Mann an, der mit einem Glas Wein auf sie wartete.
Vor 14 Jahren hatte sie Matthias in der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern kennengelernt, als sie für ihre Weiterbildung als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie recherchiert hatte. Er war der erste Mann in ihrem Leben, der ihre Hingabe für ihren Beruf akzeptierte und sogar unterstützte. So fühlte sich Sibylle auch nach diesem Gespräch gestärkt.
Sie warf die Decke ihres Beistellbetts zurück, um sich hinzulegen, entschied allerdings dann, sich einen Kaffee zu holen. Als dieser dampfend vor ihr auf dem Schreibtisch stand, drehte sie sich in ihrem Chefsessel, schloss den Metallschrank auf und zog eine dicke Mappe aus einem Hängeregister. Sie atmete durch und schlug Elisas Akte auf. Erneut würde sie die Daten von vorn bis hinten durchgehen, obwohl sie sicher war, jedes Detail auswendig zu kennen.
8.
Troyes, Frankreich
1190 n. Chr.
C hrétien erhob seinen Oberkörper aus einer unbequemen, halb sitzenden Schlafposition und stützte sich auf die Ellbogen. Er blinzelte, um seine Augen an das flackernde Dämmerlicht zu gewöhnen. Das zur Hälfte heruntergebrannte Licht neben seiner Schlafstatt gab einen feinen Wachsdampf von sich, der ihm beißend in die Nase stieg. Chrétien sandte ein leises Stoßgebet himmelwärts, dankend für jede Minute, die er auf dem bescheidenen Strohlager verbringen durfte, ohne sich die schmale Nische zwischen den feuchten, rauen Wänden mit den beiden Hofschreibern teilen zu müssen. Wo trieb sich das törichte Pack eigentlich rum?
Ein unangenehmer Luftzug umwehte seine Knochen. Schlaftrunken griff sich Chrétien an sein linkes Bein, an dem er die Kälte wie Nadelstiche auf der nackten Haut spürte. Er ertastete eines der Bänder seiner Beinlinge, die sich vom Gürtel seiner Bruche gelöst hatten. Sein Beinkleid war bis an die Ferse gerutscht. Mühsam hob er den Fuß auf den Schoß, nestelte an den Streifen und zog den aus gelbem Tuch gewebten Strumpf nach oben, wo er ihn wieder an seinem Untergewand befestigte.
Der Gedanke an Perceval, den jugendlichen Helden seines aktuellen Romanwerks, ließ ihn im Bruchteil einer Sekunde munter werden.
Noch war es draußen nicht hell. Vorbei an der ledernen Haut des Fensters ihm gegenüber erspähte er den ersten grauen Schimmer des herannahenden Tages. Er hatte noch genug Zeit zum Überlegen. Chrétien sackte auf das Strohkissen zurück und wägte sein Problem
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