Satori - Winslow, D: Satori - Satori
da ein Wunder, wenn er denkt wie ein Asiate?
Nikolai spürte, dass sich die Gedanken des Mannes mit ihm beschäftigten. Diese Amerikaner sind leicht zu durchschauen, ihre Gedanken so greifbar wie Steine am Boden eines klaren, unbewegten Teichs. Es war ihm egal, was Haverford von ihm hielt – wen interessierte schon die Meinung eines Kaufmanns? –, aber es ärgerte ihn. Er lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Sonnenstrahlen in seinem Gesicht und spürte, wie sie seine Haut wärmten.
»Was möchten Sie?«, fragte Haverford.
»Wie meinen Sie das?«
Haverford schmunzelte. Die meisten Männer wollten drei Dinge, wenn sie nach langer Haft entlassen wurden: etwas zu trinken, etwas zu essen und eine Frau, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Aber er hatte nicht vor, sich Hels herablassende Art bieten zu lassen, und entgegnete auf Japanisch: »Ich meine, was möchten Sie?«
Mittelmäßig beeindruckt, dass Haverford Japanisch sprach, und auch einigermaßen interessiert aufgrund dessen Weigerung, einen so unbedeutenden Stein auf dem Spielbrett aufzugeben, antwortete Nikolai: »Ich gehe nicht davon aus, dass Sie eine annehmbare Tasse Tee organisieren können.«
»Tatsächlich«, sagte Haverford, »habe ich bereits ein bescheidenes cha-kai vorbereiten lassen. Ich hoffe, es wird Ihre Zustimmung finden.«
Eine formelle Teezeremonie, dachte Nikolai.
Wie interessant.
Am Ende des Wegs wartete ein Wagen. Haverford öffnete die hintere Tür und ließ Nikolai einsteigen.
2
Das cha-kai war nicht nur annehmbar, es war exzellent.
Nikolai saß im Schneidersitz auf dem tatami -Boden neben dem Lacktisch und genoss jeden einzelnen Schluck des cha-noyu . Der Tee war hervorragend, ebenso wie die Geisha, die nicht weit von ihm kniete, diskret und gerade außer Hörweite der kargen Unterhaltung.
Schockiert bemerkte Nikolai, dass dieser Funktionär Haverford sich auskannte, den Tee mit makelloser Höflichkeit servierte und das Ritual fehlerlos zelebrierte. Bei der Ankunft im Teehaus hatte Haverford sich zunächst dafür entschuldigt, dass es aufgrund der Umstände keine weiteren Gäste gäbe, und Nikolai anschließend in den machiai , den Warteraum, geführt, wo er ihm eine außerordentlich anziehende Geisha vorstellte.
»Das ist Kamiko-san«, sagte Haverford. »Sie wird heute als meine hanto fungieren.«
Kamiko verneigte sich. Sie reichte Nikolai einen Kimono und bot ihm sayu an, eine Tasse des heißen Wassers, mit dem der Tee aufgegossen werden sollte. Nikolai nahm einen Schluck, und als Haverford sich entfernte, um den Tee zuzubereiten, führte Kamiko ihn nach draußen in den roji , den »Tauboden«, einen kleinen Garten ohne Blumen, nur aus Steinarrangements. Sie setzten sich auf eine steinerne Bank und genossen die Stille, ohne sich zu unterhalten.
Wenige Minuten später ging Haverford, inzwischen in einen Kimono gewandet, zu einem Steinbecken und wusch sich zeremoniell Mund und Hände mit frischem Wasser. Dann trat er durch das mittlere Tor in den roji , wo er Nikolai formell mit einer Verneigung willkommen hieß. Auch Nikolai reinigte sich im tsukubai .
Um in das cha-shitsu , das Teehaus, zu gelangen, mussten sie eine Schiebetür von nur einem Meter Höhe passieren und sich dabei zwangsläufig bücken, was den Übergang von der physischen Welt in das spirituelle Reich des Teehauses symbolisierte.
Das cha-shitsu war exquisit, elegant in seiner Schlichtheit, ein perfekter Ausdruck des shibumi . Der Tradition folgend begaben sie sich zuerst in eine Nische, an deren Wand das kakemono hing, eine Rolle mit gemalten Schriftzeichen, abgestimmt auf den jeweiligen Anlass. Wie es sich für den Gast gehörte, bewunderte Nikolai die gekonnt ausgeführten Pinselstriche, die das japanische Zeichen für satori darstellten.
Interessante Wahl, dachte Nikolai. Satori bedeutet im Zen-Buddhismus eine plötzliche Erleuchtung, eine Erkennt nis des Lebens, wie es wirklich ist. Sie war kein Ergebnis von Meditation oder bewussten Gedanken, sondern stellte sich mit einem Windhauch, dem Knistern einer Flamme, oder dem Fallen eines Blattes ein.
Nikolai hatte satori nie erlebt.
Auf einem kleinen Holzständer vor dem kakemono befand sich eine Schale mit einem einzelnen kleinen Ahornzweig.
Sie traten an ein niedriges Tischchen, auf dem ein Kohlebecken und ein Kessel standen. Während Nikolai und Kamiko sich im Schneidersitz auf die Matte am Tisch setzten, verneigte sich Haverford und verließ den Raum. Wenige Augenblicke später erklang ein
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