Satori - Winslow, D: Satori - Satori
1
N ikolai Hel betrachtete ein Ahornblatt, das vom Ast fiel, im seichten Wind segelte und sanft zu Boden schwebte.
Es war wunderschön.
Nach drei Jahren Einzelhaft in einem amerikanischen Gefängnis genoss er den Anblick der Natur, füllte seine Lungen mit der frischen Herbstluft, wartete einige Augenblicke, bevor er wieder ausatmete.
Haverford hielt es für ein Seufzen.
»Froh, draußen zu sein?«, fragte der Agent.
Nikolai antwortete nicht. In seinen Augen war der Ameri kaner nichts als ein Kaufmann wie alle seine Landsleute, nur dass dieser hier nicht mit Autos, Rasierschaum oder Coca- Cola handelte, sondern mit Spionage. Nikolai hatte nicht die Absicht, sich von diesem Funktionär in ein belangloses Gespräch verwickeln zu lassen, geschweige denn, ihm Einblick in seine privaten Gedanken zu gewähren.
Natürlich war er froh, draußen zu sein, dachte er, als er auf die tristen grauen Mauern des Sugamo-Gefängnisses zurückblickte, aber warum hatten die Menschen aus dem Westen nur immer das Gefühl, sie müssten das Offensichtliche aussprechen und Unbeschreibliches in Worte fassen? Es gehört zum Wesen eines Ahornblatts, im Herbst vom Baum zu fallen. Ich habe General Kishikawa getötet, der wie ein Vater für mich war, weil es meinem Wesen entsprach – und ich als Sohn die Pflicht dazu hatte. Die Amerikaner haben mich eingesperrt, weil sie nun einmal so sind und ihnen gar nichts anderes übriggeblieben war.
Und jetzt bieten sie mir die »Freiheit«, weil sie mich brauchen.
Nikolai setzte seinen Gang über den von Ahornbäumen gesäumten Kiesweg fort. Überrascht spürte er, wie eine leichte Panik in ihm aufstieg, und er kämpfte das Schwindelgefühl nieder, das der weite Himmel in ihm hervorrief. Diese Welt außerhalb seiner kleinen engen Gefängniszelle war groß und leer; er war vollkommen auf sich gestellt. Drei Jahre lang war er sich selbst die einzige Gesellschaft gewesen, und nun kehrte er in eine Welt zurück, die er mit seinen sechsundzwanzig Jahren nicht mehr kannte.
Haverford hatte das vorausgesehen. Er hatte einen Psychologen über die Probleme befragt, mit denen ehemalige Gefangene sich bei ihrer Rückkehr in die Gesellschaft konfrontiert sehen. Der klassische Freudianer – inklusive des typischen Wiener Akzents – hatte Haverford erklärt, »das Subjekt« würde sich an die Beschränkungen der Haft gewöhnt haben und sich von der scheinbar unbegrenzten Welt außerhalb seiner Gefängniszelle überwältigt fühlen. Klug wäre es, erklärte er weiter, den Betreffenden zunächst in einem fensterlosen Raum mit Zugangsmöglichkeit zu einem Hof oder Garten unterzubringen, damit er sich allmählich akklimatisieren könne. Offene Räume oder gar eine überfüllte Stadt mit geschäftigen Menschen und unablässigem Lärm würden ihn wahrscheinlich verstören.
Also hatte Haverford in einem ruhigen Tokioter Vorort ein kleines Zimmer in einem sicheren Haus herrichten lassen. Nach dem zu urteilen, was er über Nikolai Hel wusste – dem wenigen, das über ihn bekannt war –, konnte er sich allerdings nicht vorstellen, dass dieser verstört reagieren würde. Hel legte eine fast übermenschliche Selbstbeherrschung an den Tag, eine Ruhe, die beinahe herablassend wirkte, eine Zuversicht, die oft an Arroganz grenzte. Oberflächlich betrachtet wirkte er wie die perfekte Mischung aus seiner aristokratischen russischen Mutter und dem Samurai, der sein Ersatzvater gewesen war, dem Kriegsverbrecher Kishikawa, den er mit einem einzigen Fingerhieb gegen die Luftröhre vor der Schmach der Henkersschlinge bewahrt hatte.
Trotz seiner blonden Haare und strahlend grünen Augen, dachte Haverford, wirkt Hel eher asiatisch als westlich. Er geht sogar wie ein Asiate – die Arme hinter dem Rücken verschränkt, um möglichst wenig Raum einzunehmen und einem Entgegenkommenden keine Unannehmlichkeiten zu bereiten. Seinen großen, schlanken Körper hielt er demütig gebeugt. Äußerlich Europäer, beschloss Haverford, doch vom Wesen her Asiate. Das kam hin – er war bei seiner Mutter aufgewachsen, die nach Schanghai ausgewandert war, und als die Japaner die Stadt besetzt hielten, hatte Kishikawa sich seiner angenommen. Nach dem Tod der Mutter schickte Kishikawa den Jungen nach Japan, wo er bei einem Meister des äußerst komplizierten und nuancierten Brettspiels Go – einer Art japanischen Schachspiels, nur sehr viel schwieriger – lebte und in die Lehre ging.
Auch Hel war Go - Meister geworden.
Ist es
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