Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman
Romanfiguren und den Welten, die aus den Träumen der Schriftsteller entstehen.
»Dann also bis bald!«
»Bis bald, Scarlett, und denk immer daran: Ein Buch ist ein Freund, der dich niemals hintergeht.«
»Und von wem ist dieser schlaue Spruch?«
»Von Edoardo Tacconi, Bibliothekar aus Leidenschaft«, antwortet er mit einer höflichen Verbeugung.
6
N a, was machst du Schönes?«, frage ich meinen kleinen Bruder, der auf der Schaukel hinter dem Haus sitzt. Er schwingt beim Schaukeln die Füße so weit nach oben, dass es aussieht, als würde er jeden Moment abheben.
»Ich spiele, dass ich die Wolken berühre«, antwortet er mir ganz ernst. »Hier in Siena sehen sie einfach größer aus.«
Ich setze mich neben ihn auf die andere Schaukel und betrachte meine Fußspitzen. Ich trage meine Lieblingsschuhe, schwarze Chucks mit rosa Rand. An der Ferse ist ein großer Stern. Ich liebe Sterne, ich zeichne sie überallhin, davon bekomme ich gute Laune. In meinem Zimmer in Cremona hatte ich mir einen Sternenhimmel geschaffen. Papa hat mir dabei geholfen, denn selbst wenn ich auf Zehenspitzen auf dem Stuhl stand, kam ich nicht an die Decke heran.
Wenn ich das Licht ausmachte, tauchten die Klebesterne in allen Größen das Zimmer in einen zarten Schein. Und wenn ich nachts einschlief, träumte ich von der großen Liebe und dem Nordlicht, von Himmeln, die sich violett verfärben und von den endlos vielen Möglichkeiten, wie mein Leben verlaufen könnte, eine für jeden der funkelnden Sterne an der Decke. Wer jetzt wohl in meinem Zimmer wohnt? Ein Träumer? Oder vielleicht jemand, der es dumm und kindisch findet, den Himmel in einem Zimmer zu suchen?
»Wie war dein erster Tag?«, fragt Marco.
»Gut. Aber ich wäre lieber zu Hause geblieben und hätte gezeichnet.«
»Ich doch auch, was denkst denn du?«
Marco macht mir alles nach. Ich glaube, das ist seine Art, mir zu zeigen, wie gern er mich hat.
Zeichnen ist mein Ein und Alles. Schon als kleines Mädchen habe ich überall etwas hingekritzelt; so habe ich mir die Dinge angeeignet, manchmal auch nur in der Fantasie. Ich habe Mama gezeichnet, Papa und Oma Evelyn, unser Haus und das Spielzeug, das ich gern gehabt hätte. Auch den Hund und die Katze, die meine Mutter mir nie erlaubt hat, habe ich gemalt.
»Es kostet zu viel Zeit, sich um so ein kleines Tier zu kümmern«, sagte sie immer und hob mahnend den Zeigefinger.
»Aber ich werde mich darum kümmern! Ich werde ihm eine gute Mama sein, das verspreche ich dir«, beschwor ich sie und sah sie mit großen Augen an, wie ich es immer tue, wenn ich jemanden erweichen will.
»Jetzt schau mich nicht mit diesen großen Augen an! Wie lange wirst du dich um das Tier kümmern? Ein, zwei Tage höchstens – und dann bleibt es an mir hängen. Und ich habe schon zu viel um die Ohren.«
Also habe ich nie ein Haustier bekommen, und auch wenn ich gar nicht so genau weiß, wie es ist, eines zu haben, fehlt mir doch etwas.
Ganz plötzlich geht die Sonne unter. Die weißen Wolken lösen sich auf, und am Himmel entzündet sich eine rote Farbenpracht in allen Abstufungen von violett bis rosa.
Am liebsten würde ich Manuela anrufen und sie fragen, wie ihr erster Schultag in Cremona war. Haben sie mich dort zumindest ein bisschen vermisst? Ich möchte Matteos Stimme hören. Aber ich schließe die Augen und unterdrücke eine Träne.
»Bist du traurig?«, fragt Marco. Er ist zwar erst sechs, aber sehr aufgeweckt für sein Alter.
»Nein, ich schaue mir den blutroten Himmel an. Und ich frage mich, ob es ihm wohl wehtut, wenn er der Dunkelheit seinen Platz überlassen muss.«
»Der hat sich nicht wehgetan, der isst nur ein Erdbeereis«, sagt mein Bruder so ernst, dass ich beinahe selbst daran glaube.
Obwohl ich todmüde bin, kann ich nicht einschlafen. Wahrscheinlich ist dieser aufregende Tag daran schuld. Oder vielleicht liegt es auch daran, dass die da unten sich mal wieder streiten, und daran kann ich mich einfach nicht gewöhnen. Seit dem Tag des Umzugs geht das jetzt so. Und immer aus demselben Grund: Papa arbeitet rund um die Uhr, und Mama muss endlos viele Dinge allein entscheiden.
Papa antwortet natürlich immer: »Mein neuer Job bringt neue Verantwortung mit sich. Du könntest mich ruhig mehr unterstützen, jetzt wo du dich den ganzen Tag der Familie widmen kannst. Du könntest zum Beispiel damit anfangen, nicht gleich auf mich loszugehen, sobald ich einen Fuß in dieses Haus setze.«
Und damit geht der Krach erst richtig los.
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