Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman
nicht abschütteln.
»Das Feuer ist zu heiß. Gib ihn auf.« Diese Worte habe ich klar und deutlich gehört. Es klang fast wie eine Drohung. Und doch hat Vincent keinen Ton gesagt.
34
H eute schiebe ich meine Abneigung gegen Sonntage mal beiseite.
Die letzten Tage waren ein einziger Albtraum, daher brauche ich dringend eine Pause von der Schule … Lieber Sonntag, ich akzeptiere deine Bedingungen. Ich ergebe mich, lass mich nur in deine Arme flüchten!
Marco sitzt auf der Schaukel und versucht, mit den Fußspitzen die Wolken zu berühren. Dabei schimpft er leise vor sich hin, weil es ihm nicht gelingt. Er plappert wie ein Wasserfall, während ich mich bei meinen Antworten auf ein sporadisches »Ja, genau« oder »Hmmh« beschränke, um meine Unaufmerksamkeit zu verbergen. Mein Körper ist hier, aber mein Kopf ist ganz woanders.
Mit dem Pinsel bewaffnet betrachte ich die Staffelei vor mir. Ich finde keine Harmonie zwischen den Bildern auf der Leinwand und denen in meinem Kopf. Die Inspiration ist dahin. Ganz weit weg.
Ich würde das Bild gern beenden, aber wo immer ich Farbe hintupfe, verschlimmere ich bloß das, was ich bereits gemalt habe. Die Farben werden immer düsterer, leerer, beliebiger.
Eine Woche der Isolation liegt hinter mir. Caterina hat die Zini gebeten, sich woanders hinsetzen zu dürfen. Sie hat sich dafür eine Ausrede einfallen lassen, irgendwas mit den Augen, und so ist sie in der ersten Reihe gelandet. Neben mir sitzt diese Plaudertasche Anna, auch das Maschinengewehr genannt. Von meiner dritten Reihe aus kann ich Caterinas Haarreif sehen. Sie sitzt neben Natalia, der Streberin. Ich habe sie in der kurzen Pause eifrig miteinander tuscheln sehen, dabei hat sie sie bis vor Kurzem noch gehasst. Alles scheint besser zu sein, als neben mir zu sitzen!
Die Pause verbringe ich jetzt immer in der Bibliothek. Das eine Mal, als ich bei den anderen unter Großmutter Eiche vorbeigeschaut habe, war eine einzige Katastrophe.
»Darf ich?«, habe ich gefragt.
Keine Antwort. Da habe ich mich mit gesenktem Kopf davongeschlichen.
Oma Evelyn würde mich überreden, es noch einmal zu versuchen. »Du musst kämpfen für das, was du liebst! In der Liebe wie in der Freundschaft muss man mutig sein.« Aber die Enttäuschung ist zu groß, und ich habe Angst, dass sie mich noch mehr verletzen könnten. Also lecke ich mir lieber meine Wunden hier zwischen den einzigen Freunden, die einen niemals hintergehen, den Büchern.
Abgesehen von Edoardo natürlich, der für mich in der vergangenen Woche noch wertvoller als je zuvor gewesen ist.
Keinerlei unpassende Fragen, so wie meine Mutter immer: »Was ist denn los? Stimmt etwas nicht? Du ziehst ein Gesicht wie auf einer Beerdigung! Jetzt sag schon, was los ist, oder verschwinde. Sonst steckst du mich mit deiner Traurigkeit noch an.« Jedes Mal überschüttet sie mich mit Fragen, und wenn ich dann nicht mit der Sprache rausrücke, regt sie sich auf.
Das Problem ist, dass jemand, der es bei mir mit der Brechstange versucht, grundsätzlich das Gegenteil erreicht. Dann igele ich mich ein und hülle mich in penetrantes trotziges Schweigen.
Edoardo dagegen hat versucht, mir auf die einzige Weise zu helfen, die er kennt: Jeden Tag hat er mir einen Satz, ein Zitat geschenkt, um meinen Schmerz zu lindern. Bis ich ihm dann am Freitagnachmittag mein Herz ausgeschüttet habe. Ich habe ihm alles erzählt, von Lavinias gemeinem Plan, mich schlechtzumachen, bis hin zu Caterina und Genziana, die ich für meine Freundinnen gehalten habe und die stattdessen lieber einem blöden ersten Eindruck geglaubt haben. Ohne mir eine Chance zu geben, alles zu erklären.
»Weißt du noch, was ich dir vor Kurzem vorgelesen habe? Manchmal muss man durch Leid, wenn man erwachsen werden will. Geh deinen Weg, Scarlett. Früher oder später werden deine Freundinnen die Augen aufmachen und sehen, wie du wirklich bist. Und wenn das nicht passiert, dann heißt das nur, dass sie keine echten Freundinnen sind. Und dann kannst du neue, unerwartete Freundschaften schließen. Apropos, wie ist denn Anna eigentlich, deine neue Banknachbarin?«
»Reden wir lieber nicht darüber. Sobald sie den Mund aufmacht, quatscht sie ununterbrochen. Mir wird ganz schwindelig beim Zuhören.«
»Besser es wird einem von Worten schwindelig als von übermäßigem Alkoholgenuss.« Da mussten wir beide loslachen.
An dem Tag trug er eine bonbonrosa Fliege zu einem gelben Hemd. »Rosa ist die Farbe der Freundschaft«, hat er
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