Scarlett – Die Liebe hat Augen wie Eis, der Tod hat Augen wie Feuer: Roman
haben wir Sport. Also, hast du dein Turnzeug dabei? Und was zum Duschen? Das möchte ich dir nämlich dringend raten, da du ja jetzt meine neue Banknachbarin bist und ich keinen Bock auf Schweißgeruch habe … Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, jetzt hab ich mich wiedergefunden. Das klingt gut, nicht? Ich hatte den Faden verloren, und nun hab ich mich wiedergefunden. Kapiert? Vermutlich nicht. Ach, egal, Handtuch, Shampoo, Duschgel. Das Übliche halt.« Anna überschüttet mich mit dem gewohnten Wortschwall, und ich habe tatsächlich meinen Turnbeutel zu Hause vergessen. Und was wird die Daini dazu sagen? An der Wand der Turnhalle hängt diese nette goldene Tafel, die mich immer wieder, kaum dass ich sie betrete, an die großzügige Spende von Lavinias Vater erinnert. Anna geht ein paar Schritte vor mir und tuschelt eifrig mit Natalia, Caterinas neuer Banknachbarin. Hin und wieder drehen sie sich zu mir um und starren mich an. Ich laufe schneller und atme einmal tief durch in der Hoffnung, dass mir eine vernünftige Entschuldigung für meine Sportlehrerin einfällt.
Ich treffe sie, während die anderen in die Umkleide gehen.
»Guten Tag, Frau Daini. Entschuldigen Sie, aber ich müsste Ihnen etwas sagen …«
»Was gibt’s?« Sie mustert mich mit ihrem gleichgültigen Blick. Sie hat ziemlich schmale Lippen und noch schmalere Augen, kurze Haare und einen dauergebräunten athletischen Körper. Von hinten könnte man sie glatt für einen Mann halten.
»Es tut mir sehr leid …«
»Was tut dir leid, Castoldi?«
»Ich habe meine Tasche mit den Sportsachen vergessen. Gestern hatte ich einen schwierigen Tag und …«
»Es ist ja nur Sport, wo ist da das Problem? Ist es das, was du mir sagen willst, Castoldi?«
»Nein, ganz bestimmt nicht.«
»Seit Anfang des Schuljahres nimmst du mein Fach nicht ernst. Und das gefällt mir nicht. Ich weiß nicht, was du bislang gewohnt warst, aber Sport ist ein Fach wie jedes andere. Und wird auch genauso im Notendurchschnitt bewertet.«
»Ich weiß … Und ich verspreche Ihnen, dass es nicht mehr vorkommen wird«, sage ich und werde immer verlegener.
»Das hoffe ich für dich.« Sie wendet sich ab und beginnt, die Kegel für einen Hindernisparcours aufzustellen.
»Könnte ich vielleicht …«
»Was gibt’s denn noch, Castoldi?«
»Könnte ich in die Bibliothek zum Lernen gehen? Da ich ja ohnehin nicht mitmachen kann, könnte ich mich zumindest auf meine Biologiestunde vorbereiten.«
»Du traust dich vielleicht was! Wenn du deinen Füller nicht dabeihättest, würdest du dann etwa deinen Italienisch- oder Mathematiklehrer fragen, ob du in die Bibliothek gehen kannst, um für ein anderes Fach zu lernen, anstatt einfach trotzdem dem Unterricht zu folgen?«
»Das ist doch nicht dasselbe … Oder?« Ich weiß nicht mehr weiter.
»Castoldi, geh mir augenblicklich aus den Augen!« Sie unterschreibt den Zettel mit der Befreiung vom Unterricht und beginnt, leise vor sich hin zu brummeln. Ich mache lieber, dass ich verschwinde, ehe sie ihre Meinung ändert oder mir siebentausend Sit-ups aufbrummt.
36
D ie Bibliothek hat zwei Eingänge. Den einen erreicht man über den Hauptflur, der auch zu den Klassenräumen führt, den anderen von außen. Der äußere Zugang ist auch außerhalb der Unterrichtszeiten geöffnet. Ich nehme immer lieber diesen Eingang, weil der Weg dahin durch eine grüne Ecke des Parks führt und weil ich so Edoardo überraschen kann. Ich trete immer auf Zehenspitzen ein, vielleicht erwische ich ihn ja dabei, wie er laut Die Göttliche Komödie rezitiert.
Doch irgendetwas ist heute merkwürdig. Das bemerke ich schon von Weitem. Menschen rennen aufgeregt hin und her. Wie Insekten, die sich in einem Spinnennetz verfangen haben. Männer in Uniform. Ein Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht. Ein Krankenwagen mit lauter Sirene braust mit hoher Geschwindigkeit heran.
Es wirkt wie eine Szene aus einem Film. Aber die Angst, die in mir hochkriecht, ist vollkommen real.
Sie steigt unvermittelt in mir hoch, Unruhe erfasst mich mit ungeahnter Heftigkeit, reißt mich fast mit sich fort. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was passiert sein könnte, beginne ich zu laufen. Als ich die Bibliothek betreten will, hindert mich ein Polizeibeamter daran. »Junge Frau, Sie können hier nicht rein.«
»Was ist passiert?«
»Verzeihung, gehen Sie bitte aus dem Weg. Wir müssen hier unsere Arbeit machen.« Zwei Männer schieben mich zur Seite. Einer trägt einen
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