Scarpetta Factor - Thriller
das Lied gehört. Benton hatte sie ihr gegeben, als sie heute am frühen Morgen ohne ihn aufgebrochen war.
»Das hier solltest du besser mitnehmen«, sagte sie zu Marino.
17
Die Lichter von Manhattan tauchten den Horizont in einen dunstigen violettblauen Schein, der an einen Bluterguss erinnerte, als Benton durch die Dunkelheit auf dem West Side Highway den Hudson entlang nach Süden fuhr.
Zwischen Lagerhäusern und Zäunen konnte er immer wieder einen Blick auf das Palmolive Building erhaschen. Die Colgate-Uhr verriet ihm, dass es zwanzig vor sieben war. Die Freiheitsstatue hob sich wie ein Basrelief vom Fluss und vom Himmel ab. Der Stadt zugewandt, stand sie da und reckte den Arm, als wollte sie ein Taxi anhalten. Bentons Fahrer nahm die Vestry Street tiefer ins Bankenviertel hinein, wo die Folgen der dahinsiechenden Wirtschaft nicht zu übersehen waren. Restaurantfenster waren mit braunem Papier abgedeckt, Insolvenzerklärungen klebten an den Türen. Überall wiesen Schilder auf Räumungsverkäufe und zu vermietende Ladenflächen und Wohnungen hin.
Die verlassenen Gebäude waren rasch von Graffitisprayern übernommen worden. Aufgegebene Lokale und Läden, die Metallgitter vor den Türen und leere Plakatwände waren beschmiert. Der Großteil der Abbildungen war obszön oder einfach nur sinnlos, doch einige der Karikaturen wirkten ziemlich beeindruckend. Die Börse als Humpty Dumpty beim Fall von der Mauer. Die U.S.S. Economy , die sank wie die Titanic . Ein Wandgemälde, das Freddie Mac als den Grinch, den Zerstörer des Weihnachtsfestes, auf einem mit Schulden vollgepackten Schlitten darstellte. Die acht ausgesprochen mageren Rentiere galoppierten über die Dächer zwangsversteigerter Häuser hinweg. Onkel Sam beugte sich nach vorn, damit AIG ihn von hinten nehmen konnte.
Warner Agee war tot. Das hatte Benton nicht von Scarpetta, sondern von Marino. Er hatte vor einigen Minuten angerufen, allerdings ohne zu wissen oder auch nur zu ahnen, welche Rolle Agee in Bentons Leben gespielt hatte. Marino hatte sich einfach nur gedacht, es könnte Benton interessieren, dass der forensische Psychiater von einer Brücke gesprungen und dass Scarpettas BlackBerry in dem Hotelzimmer gefunden worden war, das er seit Mitte Oktober bewohnte. Während der Herbstsaison von CNN also. Offenbar hatte Carley Crispin oder sonst jemand eine Abmachung mit Agee getroffen. Crispin hatte ihn nach New York geholt, ihm eine Unterkunft verschafft und ihn betreut, damit er sie mit Informationen versorgte und in ihrer Sendung auftrat. Aus irgendeinem Grund hatte sie angenommen, dass er die Mühe wert war. Benton fragte sich, ob sie ihm seine Thesen wirklich geglaubt hatte. Vielleicht war ihr der Wahrheitsgehalt seiner Aussagen auch einfach gleichgültig gewesen, solange sie die Gelegenheit erhielt, sich zur besten Sendezeit im Fernsehen zu präsentieren. Oder hatte Agee andere Pläne gehabt, die Benton sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen konnte? Er hatte nicht die geringste Ahnung und war nicht sicher, ob er jemals über seine Erfahrungen mit Warner Agee hinwegkommen würde. Außerdem wunderte er sich, weil er weder Erleichterung noch Befriedigung empfand. Genau genommen empfand er überhaupt nichts und fühlte sich wie betäubt, so wie damals, als er endlich seine Tarnung hatte aufgeben und von den Toten auferstehen können.
Bei seinem ersten Spaziergang am Hafen von Boston, der Stadt seiner Jugend, wo er sich sechs Jahre lang in verschiedenen Bruchbuden versteckt gehalten hatte, war ihm schlagartig klar geworden, dass er nicht länger eine erfundene Person namens Tom Haviland spielen musste. Doch die Euphorie war ausgeblieben. Inzwischen verstand er, warum gerade aus dem Gefängnis Entlassene sofort den erstbesten Supermarkt überfielen,um wieder eingesperrt zu werden. Auch Benton hatte Heimweh nach seinem Exil gehabt. Es war eine Befreiung gewesen, nicht mehr die Last tragen zu müssen, Benton zu sein. Die Niedergeschlagenheit war ihm zur zweiten Natur geworden, und sein sinnloser Alltag war für ihn bedeutungsvoll und ein Trost gewesen, obwohl er alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, um seine Identität zurückzubekommen. Mit chirurgischer Präzision hatte er Pläne geschmiedet, um die Menschen zu beseitigen, die ihn gezwungen hatten, unterzutauchen: das organisierte Verbrecherkartell der französischen Familie Chandonne.
Es war der Frühling 2003. Kühl, ja, beinahe kalt wehte der Wind vom Hafen heran. Der Himmel war
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