Scarpetta Factor - Thriller
allgegenwärtigen Schilder »Achtung, Sprengstoff«, »Abstand halten«, »Parken streng verboten« wäre die südlichste Spitze der Bronx, die wie ein Finger in den Long Island Sound ragte, nach Marinos Ansicht das wertvollste Filetgrundstück im gesamten Nordosten gewesen.
Der frühe Morgen war grau und bedeckt. Seegras und kahle Bäume schwankten im Wind, als er mit Lieutenant Al Lobo in einem schwarzen Geländewagen durch ein Gebiet fuhr, das ihn an einen etwa fünfundzwanzig Hektar großen Themenpark – bestehend aus Bunkern, für das Häuserkampf-Training bestimmten Gebäuden, Werkstätten, Hangars für Rettungswagen und gepanzerte Fahrzeuge, Schießständen, überdacht und unter freiem Himmel, einer davon eigens für Scharfschützen ausgestattet – erinnerte. Polizisten, FBI-Mitarbeiter und Angehörige anderer Einheiten verschossen hier solche Mengen an Munition, dass Metallfässer für die leeren Messinghülsen genauso zahlreich herumstanden wie Papierkörbe auf Picknickplätzen. Nichts wurde verschwendet, nicht einmal Streifenwagen, die im Dienst einen Totalschaden erlitten oder einfachan Altersschwäche ihren Geist aufgegeben hatten. Sie wurden hierher gebracht, um sie unter Beschuss zu nehmen, in die Luft zu sprengen oder sie bei der Nachstellung von innerstädtischen Konfliktsituationen wie Aufständen oder Selbstmordattentaten zu verwenden.
Trotz des ernsten Auftrags dieser Einrichtung waren überall Anzeichen für den Galgenhumor ihrer Benutzer zu sehen, denn es wimmelte von Karikaturen, die bunte Bomben und Raketen sowie Haubitzengeschosse darstellten, die mit der Spitze im Boden steckten oder aus den seltsamsten Örtlichkeiten ragten. Wenn nicht viel los und das Wetter gut war, grillten die Techniker und Ausbilder vor ihren Blechhütten, spielten Karten oder tollten mit den Sprengstoffsuchhunden herum. Um diese Jahreszeit saßen sie zusammen, unterhielten sich und reparierten dabei die elektrischen Bauteile von Spielsachen, um sie an Familien zu spenden, die sich keine Weihnachtsgeschenke leisten konnten. Marino war gern in Rodman’s Neck. Während er und Lobo im Auto über Dodie Hodge sprachen, fiel ihm auf, dass er zum ersten Mal nicht von Geschosssalven aus halbautomatischen Waffen und vollautomatischen MP5 begrüßt wurde, einem steten Lärm, der beruhigend auf ihn wirkte. Er fühlte sich dann immer, als wäre er im Kino und hörte das Knacken der Popcornmaschine.
Selbst die Enten hatten sich daran gewöhnt und warteten förmlich darauf. Eiderenten und Eisenten schwammen vorbei oder watschelten das Ufer hinauf. Kein Wunder, dass man hier wunderbar Wasservögel jagen konnte. Die Enten erkannten das Knallen von Schüssen nicht als Gefahr – verdammt unsportlich, wie Marino fand. Die Vögel zuckten nicht einmal zusammen, und Marino fragte sich, wie wohl die Fische auf die ständigen Explosionen und das Geballer reagierten. Ihm war nämlich zu Ohren gekommen, dass es im Sound viele Schwarzbarsche, Glasaugenbarsche und Flundern gab. Eines Tages würde er eineigenes Boot besitzen, das im Hafen von City Island lag. Vielleicht ergab sich ja sogar die Möglichkeit, dort zu wohnen.
»Ich denke, wir steigen hier aus«, sagte Lobo und stoppte den Chevrolet Tahoe mitten im Entschärfungsgebiet für Sprengsätze, etwa hundert Meter entfernt von der Stelle, wo Scarpettas Paket eingeschlossen war, und in Windrichtung. »Mein Auto darf nichts abkriegen. Die Bosse werden nämlich ziemlich sauer, wenn man aus Versehen städtisches Eigentum in die Luft jagt.«
Marino kletterte aus dem Wagen und achtete darauf, wo er hintrat, denn der Boden war uneben und mit Steinen, Metallsplittern und Scherben übersät. Rings um ihn erstreckten sich Gräben, Wälle aus Sandsäcken und ungeteerte Straßen, die zu Sicherheitsboxen und Beobachtungsposten aus Beton und kugelsicherem Glas führten. Dahinter begann das Wasser. So weit das Auge reichte, war da nur Wasser. In der Ferne konnte man ein paar Boote und den Yachtclub auf City Island erkennen. Marino hatte gehört, dass sich manchmal ein Boot von seinen Tauen löste und von den Gezeiten nach Rodman’s Neck getrieben wurde. Zivile Bergungsunternehmen rissen sich nicht gerade darum, diese Boote zurückzuholen, und viele winkten ab, selbst wenn man ihnen ein Vermögen bot. Die beste Lösung wäre gewesen, das herrenlose Stück einfach dem glücklichen Finder zu überlassen. Ein World Cat 290 mit einem Zwillingsmotor von Suzuki, gestrandet mitten in Sand und Kies –
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