Scarpetta Factor - Thriller
Crispin hat Ihnen ja mächtig zugesetzt, was? Ich an Ihrer Stelle hätte mich nicht so gut beherrschen können. Übrigens ist gerade etwas für Sie abgegeben worden.« Er griff hinter die Theke. Scarpetta wusste, dass er Ross hieß.
»Gerade eben?«, wunderte sie sich. »Um diese Uhrzeit?« Ach ja, Alex hatte ihr ja den Entwurf schicken wollen.
»Die Stadt, die niemals schläft.« Ross reichte ihr einen Karton von FedEx.
Scarpetta stieg in den Aufzug und drückte den Knopf für die oberste Etage. Dabei suchte sie nach einem Hinweis darauf, dass das Paket wirklich von Alex und von CNN stammte. Aber es war kein Absender angegeben, und ihre eigene Adresse machte einen reichlich merkwürdigen Eindruck.
DR. KAY SCARPETTA
CHIEF MEDICAL EXAMINER VON GOTHAM CITY
111 CENTRAL PARK WEST USA 10023
Sie als Chief Medical Examiner von Gotham City zu bezeichnen klang nach einem schlechten Scherz. Die Handschrift war so präzise, dass sie fast wirkte wie mit dem Computer ausgedruckt. Doch Scarpetta spürte, dass ein scharfer Verstand, der sie verspotten wollte, den Stift geführt hatte. Sie fragte sich, woher der Absender wusste, dass sie und Benton in diesem Haus wohnten. Ihre Adressen und Telefonnummern waren nirgendwo verzeichnet. Erschrocken stellte sie fest, dass sich der Beleg für den Absender noch immer am Lieferschein befand. Das Paket war gar nicht mit FedEx versendet worden. Lieber Gott, mach, dass es keine Bombe ist!
Der Aufzug war alt, mit verzierten Messingtüren und einer Holzdecke mit Intarsien ausgestattet und bewegte sich quälend langsam nach oben. Scarpetta malte sich eine gedämpfte Explosion aus. Dann den Sturz den dunklen Aufzugschacht hinunter und zu guter Letzt den Aufprall. Ein übler, teerähnlicher Chemiegeruch stieg ihr in die Nase. Ein Brandbeschleuniger auf Petroleumbasis, süßlich und widerwärtig. Sie schnupperte, unsicher, was es war und ob sie es sich nur einbildete. Dieseltreibstoff. Diphoronpentaperoxid. Acetonperoxid. C4. Nitroglycerin. Gerüche und Gefahren, die sie kannte, weil sie manchmal beruflich mit Bränden und Explosionen zu tun hatte. In den späten Neunzigern hatte sie Lehrgänge zum Thema »Verhalten im Brandfall« geleitet. Damals war Lucy noch Special Agent bei der Behörde für Alkohol, Tabak und Feuerwaffen, ATF, gewesen. Scarpetta und Benton gehörten seinerzeit zum dortigen Internationalen Einsatzteam. Das war, bevor Benton gestorben und wieder von den Toten auferstanden war.
Silbergraues Haar, verkohlte Haut und Knochen. Seine Breitling-Uhr in einer rußigen Wasserpfütze am Brandort in Philadelphia. Damals hatte sie geglaubt, ihre Welt sei zusammengebrochen. Bentons angebliche sterbliche Überreste. Seinepersönliche Habe. Sie hatte nicht den geringsten Verdacht geschöpft und war überzeugt gewesen, dass er nicht mehr lebte, weil man ihr genau das hatte weismachen wollen. Der abscheuliche Gestank nach Brandstiftung und Brandbeschleunigern. Ein Abgrund, der sich vor ihr auftat, unüberwindlich und für immer. Nur Einsamkeit und Schmerz waren geblieben. Sie fürchtete sich vor dem Nichts, weil sie wusste, wie es sich anfühlte. Die vielen Jahre der Leere hatten ihren Verstand geschärft. Aber was war mit ihrem Herzen geschehen? Wie sollte sie es beschreiben? Benton fragte sie immer noch danach, allerdings nicht oft. Er hatte sich vor dem Chandonne-Kartell versteckt, vor dem organisierten Verbrechen, blutrünstigem Abschaum. Und natürlich hatte er sie dadurch schützen wollen, denn wenn er in Gefahr schwebte, galt das auch für sie. Als ob sie ohne seine Gegenwart weniger bedroht gewesen wäre. Doch niemand hatte sie um ihre Meinung gebeten. Es war besser, wenn alle ihn für tot hielten, hatte man beim FBI beschlossen. Bitte, lieber Gott, mach, dass es keine Bombe ist! Ein Geruch nach Petroleum und Asphalt. Der aufdringliche Gestank nach Teer und Naphthensäure. Napalm. Ihr traten die Tränen in die Augen, und ihr wurde übel.
Als sich die Messingtüren öffneten, versuchte sie, das Paket so ruhig wie möglich zu halten. Ihre Hände zitterten. Sie konnte den FedEx-Karton nicht im Aufzug stehenlassen. Sie durfte ihn nicht einfach wegstellen oder entsorgen, da sie damit ihre Nachbarn und die Menschen, die im Haus arbeiteten, gefährdet hätte. Während sie nervös am Schlüssel herumfingerte, raste ihr Herz. Ihr Mund war voller Speichel, und sie bekam kaum noch Luft. Metall auf Metall. Reibung. Statische Funken konnten eine Explosion auslösen. Langsam und tief
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