Scarpetta Factor
würde interessieren, wer ihr Internist war. Zu welchem Arzt oder welchen Ärzten ging sie? Das hat Mr. Darien nicht ausgefüllt.«
»Woher soll er es auch wissen? Schließlich musste er die Rechnungen nicht bezahlen. Seit dem College wohnt Toni allein, weshalb ich keine Ahnung habe, wer ihr Arzt ist. Außerdem ist sie nie krank und strotzt nur so vor Tatendrang. Ständig ist sie unterwegs.«
»Gibt es irgendwelche Schmuckstücke, die sie oft trug? Vielleicht Ringe, ein Armband oder eine Kette, die sie nur selten abnahm?«, erkundigte sich Scarpetta.
»Das kann ich nicht sagen.«
»Und eine Armbanduhr?«
»Ich glaube nicht.«
»Eine Art schwarze Sportuhr aus Plastik? Eine große schwarze Uhr? Kommt Ihnen das bekannt vor?«
Mrs. Darien schüttelte den Kopf.
»Ich kenne solche Uhren von Personen, die an Studien teilnehmen. Sie sicher auch. Uhren, die die Herztätigkeit überwachen oder zum Beispiel bei Patienten mit Schlafstörungen eingesetzt werden«, fügte Scarpetta hinzu.
Ein Funke Hoffnung malte sich in Mrs. Dariens Blick.
»Was war, als Sie Toni zu Thanksgiving getroffen haben?«, hakte Scarpetta nach. »Hatte sie da vielleicht eine Uhr um, wie ich sie gerade beschrieben habe?«
»Nein.« Wieder schüttelte Mrs. Darien den Kopf. »Genau das meine ich ja. Vielleicht ist sie es ja gar nicht, denn meiner Ansicht nach besitzt sie keine solche Uhr.«
Scarpetta fragte sie, ob sie sich jetzt die Leiche ansehen wolle. Die beiden Frauen standen vom Tisch auf und gingen ins Nebenzimmer, das klein und kahl war. Einige Fotos der New Yorker Skyline zierten die hellgrünen Wände. Das Sichtfenster war etwa taillenhoch, ungefähr auf der Ebene eines Sarges auf einem Rollwagen. Auf der anderen Seite befand sich eine Stahlwand, die Türen des Aufzugs, der Tonis Leiche aus der Pathologie nach oben gebracht hatte.
»Bevor ich die Tür öffne, werde ich Ihnen erklären, was Sie erwartet«, begann Scarpetta. »Möchten Sie sich aufs Sofa setzen?«
»Nein. Nein, danke, ich stehe lieber. Ich bin bereit.« Ihre Augen waren panisch geweitet, und sie atmete schnell.
»Ich drücke nun auf einen Knopf.« Scarpetta wies auf ein Schaltbrett mit drei Knöpfen an der Wand. Es waren alte Aufzugknöpfe, zwei schwarze und ein roter. »Wenn die Tür aufgeht, liegt die Leiche genau vor Ihnen.«
»Ja, ich verstehe. Ich bin bereit.« Mrs. Darien konnte kaum sprechen. Offenbar stand sie Todesängste aus, zitterte wie in eisiger Kälte und keuchte, als hätte sie sich gerade körperlich angestrengt.
»Die Leiche befindet sich auf einem Rollwagen im Aufzug auf der anderen Seite des Fensters. Ihr Kopf ist links, der restliche Körper ist abgedeckt.«
Als Scarpetta den obersten schwarzen Knopf drückte, teilten sich die Stahltüren mit einem lauten Klappern. Durch das zerkratzte Plexiglas war Toni Darien zu erkennen. Sie war in ein blaues Tuch gehüllt, ihr Gesicht bleich, und ihre Augen waren geschlossen. Sie hatte farblose, trockene Lippen, und ihr Haar glänzte noch feucht vom Waschen. Ihre Mutter presste die Handflächen an die Fensterscheibe, stützte sich ab und fing an zu schreien.
2
Ratlos blickte Pete Marino sich in der Einzimmerwohnung um und versuchte, ihre Atmosphäre zu erfassen und zu erspüren, was sie ihm zu sagen hatte.
Örtlichkeiten waren wie Tote. Sie konnten einem eine Menge mitteilen, wenn man ihre wortlose Sprache verstand. Was Marino auf Anhieb gestört hatte, war, dass Toni Dariens Laptop und ihr Mobiltelefon fehlten, obwohl die Ladegeräte noch in den Steckdosen steckten. Außerdem beschäftigte ihn, dass sonst alles an seinem Platz zu sein schien und die Wohnung nach Auffassung der Polizei in keinerlei Zusammenhang mit dem Mord stand. Marino hingegen hatte das Gefühl, dass jemand hier gewesen war. Er wusste nicht, warum er diesen Eindruck hatte. Es war wie ein Prickeln im Nacken, wenn man glaubte, dass man beobachtet wurde. Etwas verlangte nach seiner Aufmerksamkeit, doch er kam nicht dahinter, was es sein könnte.
Marino trat ins Treppenhaus hinaus, wo ein uniformierter Kollege die Wohnung bewachte und ohne Jaime Bergers Erlaubnis niemanden hereinließ. Sie wolle sie versiegeln lassen, bis sie sicher sei, dass sie nichts mehr daraus brauche, hatte sie Marino gegenüber am Telefon beharrt und entnervt hinzugefügt, er solle sich nicht zu sehr auf die Wohnung versteifen und sie wie einen Tatort behandeln. Ziemlich widersprüchlich also. Marino war schon zu lange im Geschäft, um etwas auf die Anweisungen
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