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Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Wandersängerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karolina Halbach
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K APITEL 1
    N OVEMBER 1267
    Behutsam legte das Mädchen die Gänsefeder zur Seite und schüttelte das verkrampfte Handgelenk. Sie sah aus dem Doppelbogenfenster, das man schon in wenigen Wochen mit Stroh und hölzernen Läden gegen die Kälte des Winters abdichten würde, hinaus auf die Wahlenstraße. Ein Löwe mit Menschenkopf zierte den Schlussstein, das Wappen der Zandt, des Geschlechts ihrer Mutter. Pater David, eben noch tief über das Lesepult gebeugt und versunken in ein Pergament, hob den Kopf und sah zu ihr herüber. »Nun Arigund, ist es dir gelungen, die Schrift aus dem Griechischen zu übersetzen?«
    Das Mädchen atmete tief durch und bemühte sich um einen bescheidenen Tonfall. Ihre Begeisterung für Griechisch und Latein hielt sich ziemlich in Grenzen. Sie mochte lebendige Sprachen, solche, die man auch sprechen konnte: Italienisch, Französisch oder Tschechisch. Die konnte man gut brauchen, wenn der Vater einmal Gäste aus den Städten beherbergte, mit denen er Handel betrieb. Was dagegen sollte sie mit Latein und Griechisch anfangen? Ihr Hauslehrer war in diesen Dingen leider unnachgiebig. Doch vielleicht konnte sie ihn diesmal überlisten?
    »Pater, Ihr habt mir doch versprochen, dass wir heute diesen neuen Choral anstimmen – zum Lobpreis Christi.«
    Der Prior sah sie aus ernsten blauen Augen an, strich sich die Kutte zurecht und runzelte die Stirn.
    »Zum Lobpreis des Herrn, mein Kind, oder weil du erhoffst, der Weisheit des Aristoteles zu entgehen?«
    »Ich habe es so gut gemacht, wie ich konnte, doch die Übersetzung war ziemlich schwierig. Nach einem Lied würde es mir bestimmt leichter fallen, mich zu sammeln und die richtigen Worte zu finden.«
    Der Mönch lächelte in seinen Bart hinein. Dieses DeCapella-Mädchen blieb selten eine Antwort schuldig. Wäre sie als Junge geboren, stünde ihr gewiss eine große Zukunft im Fernhandel offen. Fragend schaute das Mädchen den Prior an. Diese Augen, diese dunklen, fast schwarzen Augen, umrahmt von einem Kranz ungebärdiger, tief dunkelbrauner Haare, die einer Madonna würdig waren und die kleine, zierliche Statur waren ein Erbe von Arigunds Vater, dem Venezianer. Aber den klugen Kopf hatte das Kind eindeutig von der mütterlichen Seite. Das Geschlecht der Zandts war in Regensburg angesehen. Arigunds Großvater war ein außerordentlich einflussreicher Mann und hatte in seinem Leben wohl so alles erreicht, was ein Bürger Regensburgs mit Gottes Hilfe und einem schnellen Verstand erlangen konnte. Seine Tochter, Arigunds Mutter, hätte dem DeCapella sicher prächtige Söhne geschenkt. Aber leider hatte Gott der Herr in seinem unerforschlichen Ratschluss die Frau Anna Barbara schon kurz nach der Geburt ihrer Tochter zu sich genommen. Was für ein Verlust!
    »Na gut«, gab der Priester nach. »Leg die Feder beiseite! Ich werde mir das Pergament später ansehen.«
    Seine Sandalen schlurften über den Holzboden, als er zu ihr herüberkam. Für den hübschen Wandteppich und den venezianischen Spiegel hatte er keinen Blick übrig. Als Bettelmönch hatte er den weltlichen Dingen entsagt, und sie interessierten ihn tatsächlich nicht, außer sie hatten mit der Entwicklung seines Minoritenklosters zu tun. Dies war auch der maßgebliche Grund, warum er sich die Mühe machte, das Patriziermädchen zu unterrichten. Schließlich zählte ihr Vater zu den wichtigsten Förderern seiner ständig wachsenden Bruderschaft.
    Pater David von Augsburg liebte jedoch die Musik. Er war davon überzeugt, dass die menschliche Stimme, insbesondere wenn sie geschult und zu seinem Lobpreis angestimmt wurde, Gott den Herrn erfreue. Und hier war er auf eine unvermutete Begabung seiner jungen Schülerin gestoßen! Denn auch wenn natürlich Knabenchöre an Reinheit und Klang nicht zu übertreffen waren, musste er zugeben, dass dieses DeCapella-Mädchen eine angenehme Stimme besaß. Es machte Freude, mit ihr zu singen.
    Schon im Gehen stimmte der Pater ein paar Töne an. Er hatte einen volltönenden Bariton, um den ihn viele Brüder beneideten, und er hatte gelernt, seinen ganzen Körper bei der Erzeugung der Töne zu nutzen. Arigund sang zwar noch im hellen Sopran eines Kindes, zart anzuhören und unschuldig wie eine Lerche am frühen Sommermorgen, aber es gelang ihr jetzt schon, die Technik seines Gesangs nachzuahmen. Zudem hatte sie ein gutes Gehör, und so dauerte es auch diesmal nicht lange, bis sie die Melodie erfasste. Gleich in der zweiten Strophe stimmte sie in seinen Gesang ein.

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