Scarpetta Factor
gehört die Geheimnummer, von der aus er um zwanzig vor elf angerufen wurde. Der Vertrag von Carleys Mobiltelefon läuft bei AT&T. Sie hat etwa vier Minuten lang mit Agee telefoniert. Offenbar keine sehr erfreuliche Unterhaltung, sonst hätte er sich nicht ein paar Stunden später von einer Brücke gestürzt.«
Am Vorabend um zwanzig vor elf war Scarpetta noch in der Maske bei CNN gewesen und hatte bei geschlossener Tür mit Alex Bachta geredet. Sie versuchte, sich zu erinnern, wann genau sie sich verabschiedet hatte. Ungefähr zehn bis fünfzehn Minuten später. Sie hatte das unangenehme Gefühl, dass ihr Verdacht nicht unbegründet gewesen war. Carley hatte gelauscht und genug gehört, um zu wissen, was ihr blühte. Scarpetta sollte ihren Platz als Moderatorin der Sendung einnehmen. Zumindest war Carley vermutlich davon ausgegangen, denn jemand wie sie würde niemals auf den Gedanken kommen, dass jemand das Angebot von Alex ausschlagen könnte. Also hatte Carley mit ihrer Kündigung gerechnet und war sicher bestürzt gewesen. Selbst wenn sie lange genug vor der Tür gewartet hatte, um Scarpettas Ablehnung und ihre Begründung mitzubekommen, musste sie sich nun mit dem Unvermeidlichen abfinden, das sie mit Zähnen und Klauen zu verhindern versucht hatte. Mit einundsechzig Jahren würde sie gezwungen sein, sich nach einer anderen Stelle umzusehen. Dabei standen die Chancen, dass es ihr gelingen würde, wieder bei einem angesehenen und einflussreichen Sender wie CNN unterzuschlüpfen, fast bei null. Womöglich würde sie wegen der Wirtschaftslage und ihres Alters arbeitslos bleiben.
»Und was ist dann passiert?«, fragte Scarpetta, nachdem sie Lucy die Geschehnisse im Anschluss an Carleys Sendung geschildert hatte. »Ist sie von der Tür verschwunden und hat sich in ihre Garderobe geflüchtet, um rasch mit Warner zu telefonieren? Was mag sie zu ihm gesagt haben?«
»Vielleicht, dass sie seine Dienste nicht länger benötigt«, erwiderte Lucy. »Wozu braucht sie ihn noch, wenn man ihr die Sendung wegnimmt? Ohne Sendung ist außerdem Schluss mit seinen Fernsehauftritten.«
»Seit wann stellen Fernsehmoderatoren ihren Gästen langfristig Hotelzimmer zur Verfügung?«, wunderte sich Scarpetta. »Insbesondere heutzutage, wo an allen Ecken und Enden gespart wird.«
»Keine Ahnung.«
»Ich bezweifle stark, dass CNN ihr die Kosten erstattet. Ist sie wohlhabend? Zwei Monate in diesem Hotel kosten ein Vermögen, selbst wenn man ihr einen Rabatt eingeräumt hat. Aus welchem Grund wirft sie so mit dem Geld um sich? Warum hat sie ihn nicht anderswo untergebracht, wo die Miete billiger ist?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Vielleicht hatte es etwas mit der Lage zu tun«, überlegte Scarpetta laut. »Oder es war noch eine dritte Person beteiligt, die alles finanziert und ihn unterstützt hat. Jemand, den wir nicht kennen.«
Offenbar hörte Lucy ihr nicht zu.
»Und wenn sie um zwanzig vor elf Warner angerufen hat, um ihm mitzuteilen, dass er gefeuert ist und sein Zimmer verlieren wird, war es doch völlig unlogisch, ihm mein BlackBerry zu bringen«, stellte Scarpetta fest. »Weshalb hat sie ihm nicht einfach gesagt, er solle seine Sachen packen und am nächsten Tag das Zimmer räumen? Falls sie ihn rausschmeißen wollte, hatte sie keinen Anlass, ihm mein Telefon zu geben. Bestimmt hat er sich nicht weiter verpflichtet gefühlt, ihr zu helfen, wenn sie im Begriff war, die Zusammenarbeit zu beenden. Ob Agee mein BlackBerry an jemand anderen weiterreichen sollte?«
Lucy erwiderte nichts.
»Was ist so wichtig an meinem BlackBerry?«
Lucy tat so, als hätte Scarpetta nichts gesagt.
»Die einzige Erklärung wäre, dass es eine Verbindung zu mir darstellt und sehr viel über mich verrät. Genau genommen über uns alle«, beantwortete sie ihre eigene Frage.
Lucy schwieg. Sie hatte keine Lust, über das gestohlene BlackBerry zu sprechen, weil dann nämlich das Thema auf den Tisch gekommen wäre, warum sie es überhaupt gekauft hatte.
»Wegen des GPS-Empfängers, den du eingebaut hast, weiß es sogar, wo ich bin«, fügte Scarpetta hinzu. »Natürlich nur, solange ich es bei mir habe. Allerdings glaube ich nicht, dass es mein Aufenthaltsort ist, der dich interessiert.«
Scarpetta blätterte die Ausdrucke durch, die auf dem Couchtisch lagen. Es waren Hunderte von Internetrecherchen, die Nachrichtenmeldungen, Leitartikel, Hinweise und Blogs im Zusammenhang mit dem Fall Hannah Starr zutage gefördert hatten. Aber es fiel ihr
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