Scarpetta Factor
schwer, sich zu konzentrieren, da die wichtigste Frage noch, undurchdringlich wie eine Betonmauer, vor ihr aufragte.
»Du willst nicht darüber reden und dich zu dem bekennen, was du getan hast«, sagte Scarpetta.
»Worüber soll ich nicht reden wollen?« Lucy blickte nicht auf.
»Nun, so leicht kommst du mir nicht davon.« Scarpetta sah weiter die Nachrichtenmeldungen durch, die Agee ausgedruckt hatte. Offenbar hatte er in Carleys Auftrag Nachforschungen angestellt. »Du schenkst mir etwas, worum ich dich nicht gebeten habe und das ich, wenn ich ehrlich bin, auch nicht gebrauchen kann. Ein hochtechnisiertes Smartphone. Und plötzlich wird mein gesamtes Leben durch ein von dir geschaffenes Netzwerk vereinnahmt, was mich zur Geisel eines Passworts macht. Trotzdem vergisst du einfach, nachzuschauen, ob bei mir alles in Ordnung ist? Falls dir wirklich so viel daran gelegen gewesen wäre, mir, Marino, Benton und Jaime das Leben zu erleichtern, hättest du dich verhalten wie ein seriöser Systemadministrator. Du hättest zum Beispiel nachgeprüft, ob deine Anwender auch ihr Passwort benutzen, ob die Daten so gut geschützt sind, wie sie sein sollten, und ob es Sicherheitslücken oder andere Probleme gibt.«
»Ich dachte, du magst es nicht, wenn ich dir nachspioniere.« Lucy bearbeitete hektisch die Tastatur des Dell-Laptops und öffnete den Ordner mit den heruntergeladenen Dateien.
Scarpetta griff nach einem anderen Papierstapel. »Was hält Jaime davon, dass du ihr hinterherschnüffelst?«, erkundigte sie sich.
»Letzten September hat er einen Vertrag mit einem Immobilienmakler in Washington, D. C., abgeschlossen«, entgegnete Lucy.
»Weiß Jaime von dem GPS-Empfänger?«
»Anscheinend hat er beschlossen, seine Wohnung zu verkaufen, und ist ausgezogen. Sie wird als unmöbliert angeboten.« Lucy wandte sich wieder ihrem MacBook zu und tippte weiter. »Wollen wir mal schauen, ob er sie losgeworden ist.«
»Wirst du mir jetzt endlich antworten?«, beharrte Scarpetta.
»Er ist nicht nur darauf sitzengeblieben, es kam sogar zu einer Zwangsversteigerung. Eine Eigentumswohnung, drei Zimmer, zwei Bäder, in der Fourteenth Street, nicht weit vom Dupont Circle. Anfangs sollte sie sechshundertzwanzigtausend kosten, inzwischen liegt sie bei gut fünfhunderttausend. Also ist er vermutlich in diesem Zimmer gelandet, weil er sonst obdachlos geworden wäre.«
»Weich mir bitte nicht aus.«
»Als er sie vor acht Jahren gekauft hat, hat er knapp sechshunderttausend hingeblättert. Damals waren die Zeiten wohl noch besser.«
»Hast du Jaime von dem GPS erzählt?«
»Ich würde sagen, der Typ ist pleite. Tja, und jetzt ist er tot«, meinte Lucy. »Deshalb spielt es wahrscheinlich keine Rolle mehr, wenn die Bank die Eigentumswohnung kriegt.«
»Ich weiß, dass du einen GPS-Empfänger eingebaut hast.« Scarpetta ließ sich nicht von ihrem Thema abbringen. »Aber was ist mit Jaime? Hast du es ihr gesagt?«
»Wenn jemand alles verliert, gerät er möglicherweise so in Verzweiflung, dass er von einer Brücke springt.« Lucys Gesichtsausdruck hatte sich verändert, und ihre Stimme zitterte fast unmerklich. »Was hast du mir immer vorgelesen, als ich klein war? Ein Gedicht von Oliver Wendell Holmes. ›Der Einspänner‹. Beim Bau einer Kutsche, das sage ich dir,/ Gibt es stets einen schwachen Punkt .../ Das ist der Grund, wie sehr wohl jeder weiß,/ Warum die Panne kommt vor dem Verschleiß ... Als ich dich in meiner Kindheit in Richmond besucht und immer wieder vorübergehend bei dir gewohnt habe, habe ich mir gewünscht, du würdest mich behalten. Meine Mutter, dieses Miststück! Um diese Jahreszeit ist es immer das Gleiche. Die Frage, ob ich über Weihnachten nach Hause komme. Monatelang höre ich kein Wort von ihr, und dann möchte sie wissen, ob ich sie über Weihnachten besuche. In Wahrheit will sie nur sichergehen, dass ich nicht vergesse, ihr ein Geschenk zu schicken. Etwas Wertvolles, am besten einen Scheck. Zum Teufel mit ihr!«
»Aus welchem Grund misstraust du Jaime?«, erkundigte sich Scarpetta.
»Du hast in dem Zimmer, das neben deinem lag und schließlich in deinem Haus in Windsor Farms meines wurde, bei mir auf dem Bett gesessen. Ich habe dieses Haus geliebt. Du hast mir Holmes’ Gedichte aus einem Buch vorgelesen. ›Der alte Oliver Cromwell‹, ›Das Perlboot‹, ›Vergangene Tage‹. Du hast mir alles über das Leben und den Tod erklärt und gesagt, Menschen seien wie dieser Einspänner. Sie funktionierten
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