Scarpetta Factor
wenigstens.«
»Ich kann nicht. Nicht mit dir«, erwiderte Lucy.
»Sei ehrlich. Mit niemandem.«
Lucy sah sie an.
»Du hast grundsätzlich Schwierigkeiten, mit anderen Menschen über Angelegenheiten zu sprechen, die dir wichtig sind und dir sehr viel bedeuten«, fuhr Scarpetta fort. »Bei dir dreht sich alles um Dinge, die eigentlich herzlos, belanglos und nebensächlich sind. Maschinen. Die unsichtbaren Verknüpfungen im Internet und die Leute, die sich an diesen nicht existierenden Orten aufhalten. Ich bezeichne solche Personen als Phantome, die ihre Zeit damit totschlagen, dass sie twittern, chatten, bloggen und ins Leere hineinplappern.«
Die unterste Kommodenschublade klemmte, sodass Scarpetta die Finger hineinstecken musste, um den verkanteten Gegenstand – Pappe und Hartplastik – zu lockern.
»Ich bin real. Ich befinde mich in einem Hotelzimmer, zuletzt bewohnt von einem Mann, der nun als zerschmetterte Leiche in der Gerichtsmedizin liegt, weil ihm das Leben nicht mehr lebenswert erschien. Rede mit mir, Lucy. Erzähl mir, was los ist. Und zwar in einer Sprache aus Fleisch und Blut, in der Sprache der Gefühle. Glaubst du, dass Jaime dich nicht mehr liebt?«
Endlich ging die Schublade auf. Sie war mit leeren Tracfone- und SpoofCard-Packungen, Gebrauchsanweisungen, Anleitungen und Aktivierungskarten vollgestopft, die unbenutzt wirkten, weil die Abdeckstreifen auf den Rückseiten nicht abgekratzt waren. Auch eine ausgedruckte Anleitung für einen Internetdienst war dabei, der es Anwendern, die zwar sprechen, aber nur schlecht hören konnten, ermöglichte, Telefonate in Echtzeit mitzulesen.
»Redet ihr nicht mehr miteinander?« Während Scarpetta weiter Fragen stellte, schwieg Lucy beharrlich.
Scarpetta wühlte sich durch verwickelte Kabel von Ladegeräten und glänzende Plastikhüllen, die Kartentelefone enthalten hatten. Es waren mindestens fünf.
»Habt ihr Streit?«
Sie kehrte zum Bett zurück, kramte in den schmutzigen Kleidern herum und zog die Laken weg.
»Schlaft ihr nicht mehr miteinander?«
»Mein Gott!«, rief Lucy. »Du bist meine Tante, verdammt!«
Scarpetta zog die Schubladen des Nachtkästchens auf. »Den ganzen Tag berühre ich nackte Leichen. Wenn Benton und ich miteinander schlafen, tanken wir Kraft, geben uns Energie, zeigen uns, dass wir zusammengehören, tauschen uns aus und erinnern uns wieder daran, dass es uns gibt.« In den Schubladen waren Zeitschriftenartikel, noch mehr Ausdrucke, sonst nichts. Kein Einweg-Tracfone. »Manchmal streiten wir auch. Zum Beispiel letzte Nacht.«
Sie kniete sich auf den Boden, um unter die Möbel zu spähen.
»Früher habe ich dich gebadet, deine Wunden versorgt, mir deine Wutanfälle angehört und das Durcheinander in Ordnung gebracht, das du angerichtet hast. Wenigstens habe ich es immer geschafft, dich auf die eine oder andere Weise vor Schaden zu bewahren. Manchmal habe ich heulend in meinem Zimmer gesessen, so sehr hast du mich zur Verzweiflung getrieben«, sagte Scarpetta. »Ich habe deine zahlreichen Freundinnen und Liebschaften kennengelernt und eine recht gute Vorstellung davon, was du mit ihnen im Bett machst, weil wir alle gleich sind, im Großen und Ganzen die gleichen Körperteile besitzen und ähnliche Dinge damit anstellen. Außerdem wage ich zu behaupten, dass ich schon vieles gehört und gesehen habe, das nicht einmal du dir ausmalen kannst.«
Sie stand auf. Nirgendwo eine Spur von dem Tracfone.
»Warum, um alles in der Welt, genierst du dich vor mir?«, fuhr sie fort. »Ich bin nicht deine Mutter. Dem Himmel sei Dank, dass ich nicht wie meine schreckliche Schwester bin, die dich praktisch weggeben hat. Ich wünschte nur, sie hätte sich wirklich zu dieser Entscheidung durchringen können und dich mir überlassen. Dann hätte ich vom ersten Tag an für dich sorgen können. Ich bin deine Tante, und ich bin deine Freundin. Inzwischen sind wir in einem Alter, in dem wir wie Kolleginnen miteinander umgehen können. Also kannst du offen zu mir sein. Liebst du Jaime?«
Lucys Hände lagen reglos auf ihrem Schoß. Sie starrte darauf.
»Liebst du sie?«
Scarpetta fing an, Papierkörbe auszuleeren und in zerknülltem Papier herumzuwühlen.
»Was machst du da?«, erkundigte sich Lucy schließlich.
»Er hatte Tracfones, vermutlich bis zu fünf Stück. Wahrscheinlich hat er sie gekauft, nachdem er vor zwei Monaten hier eingezogen ist. Nur Strichcodes, kein Aufkleber, der darauf hinweist, aus welchem Laden sie stammen. Er könnte
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